Seite:Die Gartenlaube (1898) 0542.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wunderbare Eindruck wurde noch gesteigert, wenn am Abend zahllose Flammen und Flämmchen den Horizont meilenweit beleuchteten und in der Dunkelheit das blendende Schauspiel einer glänzenden Illumination hervorzauberten. Hier schlug die rote Lohe der kolossalen Hochöfen zum nächtlichen Himmel auf, gleich dem feuerspeienden Krater eines mächtigen Vulkans, aus dessen Innern das geschmolzene Eisen wie ein glühender Lavastrom hervorschoß; dort blitzten die grünen und bläulichen Lichter des kochenden Zinks wie ein buntes Feuerwerk auf, während die angezündeten Kohlenmeiler, die in Coaks verwandelt werden sollten, weithin wie brennende Dörfer und Städte in düstrer Glut dem überraschten Wanderer erschienen. Rauschende Wasserkräfte, sausende Windgebläse und riesige Dampfmaschinen arbeiteten unablässig, fachten die lodernden Flammen an, schwangen die centnerschweren Eisenhämmer, drehten die ungeheuren Walzen und Räder, welche das spröde Metall, die zähen Eisenblöcke zu dünnen Platten preßten oder zu starken Schienen streckten und schweißten, auf denen die Lokomotiven im Fluge dahinsausen.

Zwischen diesen Gruben, Hütten und Lagerplätzen bewegten sich in unabsehbaren Reihen die Karren und primitiven Fuhrwerke der sogenannten „Vekturanten“, die das Erz, die Kohlen und die gewonnenen Erzeugnisse fortschaffen und verfahren. Elende Wagen von höchster Einfachheit, mit kleinen, zottigen Pferden bespannt, schleppten sich mühsam auf den vernachlässigten Landwegen oder ausgefahrenen Chausseen fort. Ausgestreckt auf den schwerbelasteten Wagen leitete der Landmann das magere, halbverhungerte Gespann, schlafend oder halbberauscht, da das leicht verdiente Geld ebenso schnell in den überall an der Straße liegenden Schenken vertrunken und verjubelt wurde, während der Acker unbestellt oder den Frauen und Kindern zu notdürftiger Bestellung überlassen blieb und die vernachlässigte Wirtschaft notwendig zu Grunde ging.

Ueberall fand ich auf meinen Reisen reges Leben und Treiben neben Trägheit und Verkommenheit, unermeßlichen Reichtum und furchtbare Armut, glänzenden Luxus und unsägliches Elend, raffinierte Kultur und rohe Barbarei. Dieselben Gegensätze, die das ganze Land mir zeigte, spiegelten sich auch in dem Charakter der Bewohner. Wie dies so oft bei Grenzbevölkerungen zu beobachten ist, hatte die oberschlesische die Fehler und Schwächen der beiden in ihr vereinigten Rassen; die Berührung des deutschen mit dem slavischen Element hatte auf beide schädlich gewirkt und ihre Entwicklung aufgehalten.

Von Natur gutmütig und begabt, war das arme Volk jener Gegend durch Jahrhunderte dauernde Sklaverei, Unterdrückung und Vernachlässigung demoralisiert und erniedrigt. Seine Hauptfehler waren eine fast unüberwindliche Trägheit, Unwissenheit, Sorglosigkeit und grenzenloser Leichtsinn. Unter dem Druck der auf ihm lastenden Leibeigenschaft und Erbunterthänigkeit, die erst die neuere Gesetzgebung aufgehoben hatte, mußten mit der Zeit alle besseren Keime verkümmern und zu Grunde gehen.

Selbst der Segen der ihm geschenkten Freiheit, die Folgen der durch das Gesetz aufgehobenen Erbunterthänigkeit vermochten nicht, das traurige Geschick des Landmanns wesentlich zu verbessern, ja sie verschlimmerten anfänglich seine erbärmliche Lage. Bis dahin war der Gutsbesitzer wenigstens verpflichtet und interessiert, für ihn Sorge zu tragen. Er mußte ihn zur Not ernähren, ihn mit dem unentbehrlichsten Viehstand und Ackergeräten versehen und die über seinem Kopf zusammenstürzende Hütte ihm wieder aufbauen lassen.

Das Gesetz hatte den Bauer frei gemacht und auf seine eigene Kunst verwiesen. Aber unter dem vorausgegangenen langen Druck hatte er den Gebrauch derselben verloren, wie der gebrochene und eingeschnürte Fuß das Gehen verlernt, selbst wenn er wieder geheilt wird. Da der Gutsherr nach wie vor die Polizei verwaltete und durch den von ihm angestellten Justitiar die Patrimonialgerichtsbarkeit ausübte, herrschte auf dem Lande noch immer eine aller Beschreibung spottende Willkür und Rechtsunsicherheit. Die Fälle, daß Leute zu Tode geprügelt wurden, zählten damals keineswegs zu den Seltenheiten, und diese Verbrechen kamen nur ausnahmsweise zur Anzeige und führten noch seltener zur Bestrafung der Schuldigen, da die Furcht zu groß und die Herren zu mächtig waren. Ebenso stand der Bauer in den vielfachen Civilprocessen und Verhandlungen wegen der Ablösung der Zinsen und der Robot dem Grundbesitzer hilf- und ratlos gegenüber.

So erschien mir zu der Zeit, als ich noch in Oberschlesien lebte, das Volk im gewissen Sinne noch immer der weiße Sklave des Gutsbesitzers, obgleich die Leibeigenschaft und Erbunterthänigkeit schon längst aufgehoben und geschwunden war. Unter diesen Verhältnissen rückte das Jahr 1847 heran und mit ihm jene traurige Katastrophe, die berüchtigte oberschlesische Hungersnot und der damit verbundene Flecktyphus.

Die eigentümliche Lage des Landes und der Bevölkerung, die ungünstigen klimatischen Einflüsse, wiederholte Mißernten, schlechte und mangelhafte Ernährung und verkehrte oder unzureichende Maßregeln trugen dazu bei, einen Notstand hervorzurufen, wie er schrecklicher nicht gedacht werden konnte. Die Hauptschuld jedoch wurde nicht mit Unrecht dem alten Regierungssystem zugeschrieben, das alle Warnungen und Mahnungen der besser Unterrichteten nur als Zeichen des „beschränkten Unterthanenverstandes“ und liberaler Unzufriedenheit ansah und die laut um Hilfe rufende Stimme der Presse durch die bestehende Censur erstickte. Schon in den letzten Monaten des Jahres 1847 sah man die Vorboten des drohenden Unheils. Scharen von entlassenen und brotlosen Arbeitern suchten vergebens eine Beschäftigung, während Frauen und Kinder mit hohlen Wangen, in Lumpen, fast nackt, bettelnd von Dorf zu Dorf zogen und sich um den Abfall der Küchen, selbst um rohe Kartoffelschalen stritten, um ihren Hunger zu stillen. Hier und da fand man am Wege, im Walde oder auf freiem Felde die Leiche eines der Not erlegenen Unglücklichen. Infolge des Mangels und der schlechten Ernährung traten zahlreiche gastrische Fieber und Ruhren auf, aus denen sich allmählich der Typhus entwickelte, der nun schnell um sich griff. Bald lagen Tausende danieder, in einzelnen Dörfern mehr als die Hälfte der Einwohner.

So erkrankten im Kreise Pleß im Jahre 1847 nach amtlichen Berichten 19539 Personen, von denen 2292 starben, im Rybniker Kreise gab es Ortschaften, wo nur zwei oder drei Häuser von der Seuche verschont blieben; ganze Familien verfielen dem Tode, Hunderte verwaister, nackter, brotloser Kinder irrten von Dorf zu Dorf, weil sie, der Eltern beraubt, kein Obdach, keine Heimat, keine Nahrung finden konnten. Nicht selten mangelte es an Brettern zu Särgen für die Leichen, die in Lumpen gehüllt oder nackt zum Kirchhof auf Handschlitten oder Schubkarren geschleift wurden. Dabei fehlte es an menschlicher Hilfe. Schwarze Tafeln vor den Thüren der durchseuchten Hütten scheuchten das Mitleid von der Schwelle fort und verbreiteten Schrecken und Entsetzen. Die Zahl der heimischen Aerzte reichte nicht mehr hin, und viele von ihnen verfielen der Ansteckung, erkrankten und starben, während die furchtsamen Behörden sich fern hielten und ihre Pflicht versäumten. Vater und Mutter, Kinder und Säuglinge, eine ganze Generation rang ungesehen und ungehört mit dem erbarmungslosen Tode, in dumpfer Verzweiflung oder stumpfer Resignation. Nach und nach verstummten die Klagen, schwieg das Röcheln der Sterbenden, bis alles still war. Ich selbst fand bei meinem Besuche eines Dorfes in einer Hütte auf dem bloßen Fußboden, ohne Decken, zwischen fünf Kranken zwei bereits Verstorbene, die der kaum vom Typhus genesene Vater zu schwach war fortzuschaffen, während fremder Beistand nicht zu erlangen war.

Endlich erwachte die apathische Regierung aus ihrer bisherigen Unthätigkeit; zugleich weckte die furchtbare Not die schlummernde Menschenliebe, Mitleid und Erbarmen. Aus allen Teilen der Monarchie strömten Aerzte, Krankenpfleger, barmherzige Brüder und Schwestern herbei. Die wohlhabenden Gutsbesitzer der heimgesuchten Kreise eröffneten Volksküchen für die Hungernden; Geld, Nahrungsmittel und Kleidungsstücke wurden gesammelt und verteilt, für die Kranken Lazarette eingerichtet, wozu meist die nicht mehr besuchten und leerstehenden Schulstuben benutzt wurden. Die Privatwohlthätigkeit brachte die größten Opfer, und Männer wie der junge Rudolf Virchow und der Prinz Biron scheuten nicht die Gefahr der Ansteckung und selbst nicht den Tod, dem der letztere leider erlag.

Während dieser Vorgänge war in Paris jene Revolution gegen Louis Philipp ausgebrochen, deren Rückwirkung auf

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0542.jpg&oldid=- (Version vom 25.11.2022)