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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

‚Nein!‘ sagte ich, etwas rauh, ,es ist zu feucht für dich.‘

Er machte eine ungeduldige Bewegung.

‚Behandle mich doch nicht immer als Kranken,‘ erwiderte er ärgerlich, ,ich bin ja ganz gesund – heute so gesund wie nie zuvor. Wie ich hier zurück ging,‘ fuhr er träumerisch fort, ‚war noch Licht in den einzelnen Häusern – oder doch in einem – das sah so hübsch aus – ich hätte es gern noch einmal gesehen.‘

,In welchem Hause?‘ frug ich unwillkürlich.

,Beim General!‘ erwiderte er kurz, ‚Gute Nacht!‘


Von diesem Tage an war unser Zusammenleben, das ganze, friedliche Bild der ersten Zeit, wie mit einem Schlage verschoben und verändert – wie eine Landschaft, die man bisher im lachenden Sonnenglanz gesehen hat und die plötzlich im Schatten finsterer Wolken liegt – so blaßfarbig, so unheimlich, so anders, daß man sich immerfort fragt, ob das denn noch dieselbe Gegend ist, durch die man so fröhlich gewandert war.

Der Zufall schob die Menschen in dieser Zeit auch so sonderbar hin und her. Frau v. Redebusch erkrankte an einem nicht ganz ungefährlichen Fieber und Annie konnte sie den ganzen Tag nicht verlassen – nur spät abends kam sie vor die Thür und saß mit mir und Allan draußen. So hatte sie auch die beiden – Allan und das gefährliche Mädchen – noch nicht zusammen gesehen, und er sprach nie von Sinaide, das war mir das Allerunheimlichste.

Er hatte damals noch so viel Willenskraft, daß er sie fast gar nicht sah, so wenig als es möglich war – aber es ließ sich bei der Kleinheit des Ortes und den nun einmal vorhandenen Beziehungen natürlich nicht ganz vermeiden. Und waren es täglich nur wenige Minuten oder halbe Stunden, so war es nur zu ersichtlich, daß er eben von diesen kurzen Augenblicken lebte! Er war vorher von einer Rastlosigkeit und Aufgeregtheit, die uns andere förmlich mit ergriff – er sprach, debattierte, lachte und erzählte ohne Aufhören, und dazwischen zog er alle zwei, drei Minuten verstohlen die Uhr, bis der Augenblick gekommen war, wo er sich losmachen konnte. Ich sah dann Annies klare Augen oft mit einem Ausdruck so leidenschaftlicher Sorge auf seinem Gesicht ruhen, daß es mir das Herz zusammenpreßte. Sie wußte gar nicht, was sie denken sollte – irgend einen unbestimmten Verdacht zu schöpfen, das lag ihrer reinen Natur viel zu fern, sie schob alles auf sein Befinden, das sich wirklich verschlimmerte. Sein kurzer, nervös klingender Husten, den wir überwunden geglaubt, kam jetzt öfter und öfter. – ,Er ist krank!‘ sagte Annie bisweilen zu mir, als wollte sie sich mit diesem traurigen Grunde beruhigen.

An einem Nachmittag kam ich zu Frau v. Redebusch, sie lag auf dem Sofa und war allein im Zimmer.

‚Meine Jugend ist draußen auf der Terrasse,‘ sagte sie auf einen fragenden Blick, ,dies junge Mädchen aus der Villa Bella ist bei Annie – sie kommt jetzt öfter her. Was ist das für ein schönes Geschöpf!‘

‚Wie gefällt sie denn Ihrem Fräulein Tochter?‘ frug ich möglichst unbefangen.

‚Ich glaube, gut. Annie ist ja nicht sehr leicht enthusiasmiert und hat eigentlich, wie natürlich, nur Augen für Allan. Aber sie scheinen doch gut miteinander auszukommen – sie gingen gestern zusammen spazieren, und heut’ ist sie schon den ganzen Nachmittag hier.‘

Ich trat auf die Terrasse hinaus. Annie und Sinaide saßen an der einen Seite und schienen beschäftigt, eine Handarbeit anzufertigen – Annie lehrte, und die andere saß mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt dabei und hörte zu. Sie begrüßte mich auch nur sehr flüchtig.

‚Ich muß aufpassen,‘ sagte sie, ,meine faulen Hände sollen hier fleißig und geschickt werden.‘

Allan saß auf der steinernen Brüstung der Terrasse, er sprach kein Wort und sah finster und verdrossen aus – seine Augen hingen beständig an der Gruppe. Annie hob von Zeit zu Zeit den Kopf, sah ihn liebevoll an und nickte ihm zu. Für Sinaide schien er nicht zu existieren. Sie sprach über ihn hin, als wenn er Luft wäre – und gab ganz kurze, gleichgültige Antworten, wenn er sie etwas fragte – sie sah ihn kaum an, und ich merkte wohl, daß er vor verzweifelter Ungeduld und nervöser Erregung kaum mehr er selbst war. – Bisweilen, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, flog es wie ein arglistiges Lächeln um ihren Mund – ich sah es wohl.

Als die Dämmerung hereinbrach, erhob sie sich. ,Ich muß jetzt nach Hause gehen, Großpapa braucht mich,‘ sagte sie mit ihrer gesetztesten Miene und warf mir einen flüchtigen, schalkhaften Blick zu, ,bin ich nicht sehr pflichtgetreu, Herr Doktor? Fräulein v. Redebusch wird noch ein Mustermädchen aus mir machen.‘

‚Das könnte nichts schaden,‘ erwiderte ich halb lächelnd – ich verstand ihre neueste Rolle noch nicht.

Annie war ins Zimmer gegangen, um nach der Mutter zu sehen.

Sinaide legte ihre Arbeit zusammen und setzte den großen schattigen Strandhut auf – als sie an Allan vorbeiging, sah sie plötzlich zu ihm in die Höhe und ich hörte sie halblaut sagen: ‚Ich gehe jetzt noch an den Strand – haben Sie heute den ganzen Abend ‚Dienst‘?‘

Er sah mit einem förmlich aufleuchtenden Blick empor und schüttelte den Kopf. Sie nahm flüchtig Abschied, und in dem Augenblick, als sie in der Balkonthür stand, knickte eine der Blumen ab, die sie im Gürtel trug, und fiel zur Erde. Ich sah, wie Allan sich hastig danach bückte und sie aufhob – dann war Sinaide fort. –

Ich fühlte eine so tiefe, innerliche Empörung über dies Doppelspiel, daß ich zuerst nicht sprechen konnte – ich beschloß aber doch, wenigstens das meine zu thun, um der Sache entgegenzuarbeiten.

‚Ich bleibe heut’ abend hier,‘ sagte ich, als Annie eben wieder zu uns trat, ‚Allan wollte uns ja aus ‚Childe Harold‘ vorlesen!‘

Er erwiderte nichts und ging die Stufen hinunter – vor dem Hause blieb er unschlüssig stehen. Ich überlegte einen Augenblick, dann sprach ich zu Annie.

‚Nehmen Sie ihn ein bißchen in acht!‘ sagte ich ernst, ‚dieses Fräulein amüsiert sich mit ihm und über ihn! Das ist nichts für ihn – und nichts für Sie!‘

Sie sah mich ruhig an und schüttelte mit einem zuversichtlichen Lächeln den Kopf.

‚Nein, nein – da thun Sie ihr unrecht!‘ sagte sie entschieden, ‚sie hat sich ja den ganzen Nachmittag nicht um ihn bekümmert – sie spricht kaum ein Wort mit ihm! Das hat ihn vielleicht etwas verstimmt; er ist es so gar nicht gewöhnt, daß er den Leuten unwichtig ist.‘

Sie lachte mich unbefangen an, und während wir noch sprachen, sah ich Allan langsam die Strandtreppe hinuntergehen und dann weiter unten Sinaidens weißes Kleid durch die Dämmerung leuchten und neben ihm auftauchen.

Sie war meinen Augen gefolgt und sah eine Weile starr nach der angegebenen Richtung.

‚Mein Gott, das ist ja doch aber gar nicht möglich!‘ sagte sie, ‚das ist doch gar nicht möglich!‘


Von diesem Tage an nahm die Sache eine andere Gestalt an: es war über unseren armen Jungen gekommen wie eine Krankheit, die Leidenschaft zu dem bethörenden Geschöpf hatte ihn gepackt und hielt ihn wie mit Krallen fest. Mir ging, wenn ich ihn so sah, oft ein altes Volkslied durch den Sinn, das die friesischen Bauernfrauen sangen: ‚Wenn das Stroh in Flammen steht und der Wind dazwischen weht‘ – dies Verzehrende, Rastlose, Rasche, das lag auch in seiner Art – und es verzehrte auch ihn!

Annie ließ sich nach jenem ersten Abend nie mehr etwas anmerken. Sie ging tapfer und blaß neben ihm her, immer bemüht, ihm alles fern zu halten, was ihn verletzen konnte, und ertrug seine jetzt oft sehr gereizten und bitteren Stimmungen mit einer stillen Geduld, die mich aufs tiefste rührte.

Wie weit Frau v. Redebusch in der Sache klar sah, das weiß ich nicht. Sie war, wie viele Kranke, zu sehr mit

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