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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

des Seeschlosses verbrachte, mit dem Gefühle davonging, bei alten, guten Freunden gewesen zu sein und ihnen dasselbe Gefühl hinterlassen zu haben.

Man hat für das rasche Verstehen, das manchmal zwischen Menschen sich findet, den sehr bezeichnenden Ausdruck: ‚Wir sprechen dieselbe Sprache‘ – aber das hält nicht immer Stich! Auch diese innerliche Sprache, und gerade sie hat ihre Dialekte, und erst, wenn man sich auch dabei und darin so ganz versteht, ist die richtige Freundschaft da, und so war es hier.

Mutter und Tochter waren äußerlich und innerlich sehr verschieden – die Mutter klein, schmächtig, blaß, mit einem Gesicht, auf das Krankheit und Zeit ihre unverwischbaren Linien gezeichnet hatten; sie machte einen unsicheren, scheuen Eindruck, und ihr fehlte bei aller Herzensgüte und feinen Liebenswürdigkeit jede Fähigkeit, einen Entschluß zu fassen. Sie hatte sich augenscheinlich daran gewöhnt, alle Verantwortung und Entscheidung ihrer Tochter zuzuschieben, und diese trug die Last solcher Verantwortung mit einer ruhigen Anmut, wie sie eigentlich erst späteren Jahren eigen zu sein pflegt. – Die Tochter, Annie, war groß, schlank und blond, mit feinen Zügen – man findet solche stille Gesichter manchmal unter der weißen Haube der Diakonissinnen – eine gewisse stolze Verschlossenheit, die sie kennzeichnete, wich erst bei näherem Kennenlernen, und man war dann überrascht, welch ein Schatz von Gefühlswärme und Gefühlstiefe in ihr lag. Sie nahm alles ein wenig ernsthaft und hatte eine einfache, verständige Art, mit dem Leben umzugehen, von der ich sehr wohl begriff, daß sie meinen unruhigen Liebling Allan gefesselt habe; es war in diesem Mädchen etwas wie frische Bergluft, kein Nebel, keine verschwommenen Linien – alles klar, scharf umrissen und sonnenbeleuchtet.

Mir kam sie, ebenso wie die Mutter, mit großem Vertrauen entgegen. ‚Wir wollen einander doch auf Treu und Glauben nehmen,‘ sagte sie zu mir, ,weil wir denselben Menschen so sehr lieb haben!‘

Das war ziemlich das einzige, was ich über ihr Verhältnis zu Allan hörte, bis ich sie zusammen sah, und wenn ich mir bisweilen Gedanken darüber gemacht hatte, ob sie wirklich warm empfinden könne, so waren diese Gedanken in dem Moment verschwunden, da ich sie am Abend seiner Ankunft miteinander beobachtet hatte.

Ich holte ihn selbst von der Bahnstation, und als ich auf die Plattform trat, brauste eben der Zug in die Halle.

Er stieg aus – langsam, wie mir schien – und ich nahm ihn gleich mit mir zu einem offenen Wägelchen, das bald mit uns durch den Abend hinrollte. Ich blickte in der Dämmerung ein paarmal nach ihm hin – er sah schmal und scharf aus und hatte einen sonderbaren Glanz in den Augen.

Als er mich einmal bei einem solchen Blick ertappte, sah er mich verwundert an. ‚Was hast du denn immerfort an mir zu studieren?‘ frug er ein wenig ungeduldig.

Ich lachte, nicht ganz unbefangen. ‚Nimm einmal an, ich freute mich wieder, was du für ein hübscher Kerl bist!‘ sagte ich scherzend.

,Ach dummes Zeug!‘ gab er zurück und zuckte die Achseln. Nach einer Weile fügte er hinzu: ,Ich bin müde, Rütgers – merkwürdig müde!‘

,So!‘ sagte ich nur, mir war ungemütlich zu Sinn.

Es schien aber, als wenn ich keinen Grund zu ernster Sorge haben sollte – er erholte sich fast von Stunde zu Stunde in der klaren, staubfreien Luft und bei der ruhigen liebevollen Sorgfalt, mit der seine Braut ihn unmerklich zu umgeben verstand und die etwas Wohlthuendes haben mußte. Ich hätte ihn gern ärztlich untersucht – er blieb aber mit Hartnäckigkeit dabei, es für unnötig und sich für ganz gesund zu erklären. Er warf den geschlossenen Brief, den ihm sein Arzt für mich mitgegeben hatte, vor meinen Augen ins Meer und wies jeden Gedanken an Krankheit und Mißstimmung weit von sich. Ich ließ ihn zunächst dabei, weil ich ihn nach keiner Richtung hin aufregen wollte.

Ich war mir nicht darüber klar, ob Annie seinen Zustand für ernst hielt; wenn ich sie mit Allan zusammen sah, war sie heiter und guter Stimmung und mit allem zufrieden, was ihm eben lieb und erwünscht schien.

Eines Abends traf es sich aber zufällig, daß ich ihr allein begegnete. Ich kam von der Praxis und sah ihre schlanke Gestalt von der Ferne her mir entgegenkommen. Sie trug ein Sträußchen in der Hand und bückte sich von Zeit zu Zeit, um noch ein Stengelchen dazu zu pflücken.

Als wir uns nahe genug waren, um uns genau zu sehen, bemerkte ich, daß sie blaß und ernsthaft war. Wir gingen schweigend nebeneinander her.

,Nun?‘ frug ich endlich statt aller andern Begrüßung und sah sie fragend an.

Sie blieb plötzlich stehen und starrte eine ganze Weile vor sich hin; dann sagte sie mit gepreßter Stimme: ,Ich habe Angst!‘

‚Wovor?‘ frug ich ausweichend.

,Vor nichts! aber um jemand! um Allan! ich glaube, er ist kränker, als wir denken. Er sieht so anders aus – und er wird so leicht müde – was kann denn das sein, Herr Doktor – was kann denn das sein?‘

Sie legte in einer ihr sonst fremden Erregtheit die Hand auf meinen Arm und sah mir flehend und fragend ins Gesicht.

,Vor allen Dingen ruhig Blut!‘ sagte ich in möglichst leichtem Ton, ,er ist doch hierher gegangen, nicht weil er gesund ist, sondern weil er gesund werden will – das dürfen wir nicht vergessen! Und mein Eindruck ist – ich kann ja eben nur von Eindrücken sprechen! – daß er sich bei fortgesetzter innerer und äußerer Ruhe, bei diesem Leben ohne Emotionen – fast hätte ich gesagt, ohne Gedanken – völlig erholen kann und wird, aber dabei müssen wir alle auf dem Posten sein. Also halten Sie den Kopf hoch und jagen Sie die schwarzen Gedanken fort, Fräulein Annie, lassen Sie sie mit den hübschen, silberweißen Möwen dort übers Meer fliegen; das ist das beste für Sie und für Allan.‘

Sie sah mich halb getröstet an.

,Das will ich auch!‘ sagte sie dann. ,Ich bin für mich selber nie ängstlich gewesen; nur wenn es sich um ihn handelt, dann bin ich so merkwürdig feige. Aber das muß aufhören. Sie sollen einmal sehen, was ich für Courage habe, wenn ich will!‘

‚Hoffentlich brauchst du sie nicht, du liebes Mädchen!‘ dachte ich bei mir, als ich nach Hause ging – so ganz leicht war mir nicht ums Herz.


Wir hatten in dieser Zeit so für uns gelebt, als ob wir allein in Roswyk wären, mit den übrigen Badegästen bestand gar kein Zusammenhang und der General hatte sich bisher noch gar nicht um Allan bekümmert und ihn nur flüchtig begrüßt.

Eines Morgens aber wurde ich an das Paar in der Villa Bella erinnert.

Ich kam mit Allan vom Baden zurück und wir gingen eben auf den Dünen entlang nach Hause. Da fuhr in raschem Trabe ein offener Wagen an uns vorbei; der General saß darin und neben ihm ein junges Mädchen. Der alte Herr grüßte und wir grüßten wieder; seine Begleiterin bog sich hastig aus dem Wagen und sah uns an.

Sie hatte dunkle Haare und sehr merkwürdig damit kontrastierende düsterblaue Augen – ein feuriges, lebhaftes, sonderbares Gesicht, in dem bei dem Lächeln, mit dem sie unsern Gruß erwiderte, ein wunderschöner, kleiner Mund mit sehr kurzer Oberlippe und blitzenden, weißen Zähnen auffiel. Das Ganze hatte etwas so Frappierendes, daß mir diese Details sogar in dem flüchtigen Augenblick zum Bewußtsein kamen.

,Das ist wohl die Enkelin!‘ sagte ich nach einer Weile zu Allan, der stehen geblieben war und dem Wagen nachsah.

Er nickte zerstreut und sprach dann nicht mehr viel – ich glaubte, er wäre vom Baden ermüdet, und ließ ihn still neben mir hergehn.

Als wir ans Haus kamen, sagte er mitten aus einem andern Gespräch heraus: ,Ein gefährliches Gesicht!‘

Ich lachte.

‚Bist du noch immer dabei?‘ frug ich.

Er lachte auch. ,Weißt du, so ein Stück Maler steckt doch nun einmal in mir – und das müßte eine hübsche Studie geben.‘

Am nächsten Morgen traf ich das Brautpaar unten am Strande. Die Soane brannte so glühend und erbarmungslos auf den weißen, weichen Sand, wie sie es nur an der Nordsee fertig bekommt – es war träge Ebbezeit. Die See lag wie ein ungeheuerer, blendender, glitzernder Schild da und schien kaum zu atmen. Ich kam gerade von einem schwer Kranken

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