Seite:Die Gartenlaube (1898) 0529.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Sommer durch starke Fluten den heftigsten Angriffen ausgesetzt ist. Hinter dem Deiche liegen die Häuser, die älteren unten, so daß man bequem in die Fenster hinabgucken kann, die neueren in Deichhöhe. Ein mehr oder weniger breites Vorland trennt den Fuß des Deiches vom Flusse, je nach den Windungen des letzteren.

Weit schweift der Blick vom Deich aus über das gesegnete Land hin. Was, abgesehen von der überall zu Tage tretenden Ueppigkeit des Wachstums, den Vierlanden den Charakter der Eigenart giebt, ist die stark hervortretende Gemüse-, Obst- und Blumenzucht, ganz insbesondere die letztere. Die Vierländer sind Hamburgs Hauptblumenlieferanten. Wahre Blumenfelder giebt’s hier, auf denen alle beliebten Blumen, Rosen, Maiglöckchen, Nelken, Narzissen, Levkojen, Veilchen, auch hochmoderne, wie Chrysanthemen, Gladiolen etc., gezogen werden – ja, der Ausdruck „Blumenmeer“ ist bisweilen für dieses Gartenland am Platze, ein Vergleich, der um so besser paßt, als wir in dem köstlichen Duft, den dieses Meer aushaucht, ein Gegenstück zu der kräftigen Seeluft haben.

Rose und Maiglöckchen („Maibloom“) sind die Königinnen unter den Vierländer Blumen. Außer durch den Verkauf derselben an Hamburger Blumenläden und Blumenhändler weiß der kluge Vierländer aber auch noch auf andere lohnende Weise Gewinn aus ihnen zu ziehen: die Rose präpariert er für die Zwecke des Konditors und des Rosenölfabrikanten, die jungen Schößlinge der Maiblumen im Herbste versendet er ins Ausland, nach Rußland, England, ja nach Amerika und womöglich noch weiter, damit sie dort, künstlich schnell zum Aufblühen gebracht, die Liebhaber des reizenden Blümleins erfreuen können. „Maiblume“ hat er in Anerkennung dieser Bedeutung des Blümchens auch den Dampfer getauft, der Hamburg direkt mit dem Herzen seines Ländchens verbindet. Jeder Vierländer hat zum mindesten ein paar Beete mit Maiblumen bepflanzt; auf unserem unteren Bilde S. 528 sehen wir eine Familie mit dem Sortieren der Keime beschäftigt.

Unter den Früchten nimmt die Vierländer Erdbeere den ersten Platz ein. Vierländer Erdbeeren mit Milch – mit der Verheißung dieses Genusses kann man auf einem Hamburger Kindergesicht den Ausdruck der höchsten Seligkeit hervorrufen! – Aber die Johannis-, Stachel- und Himbeeren, die Kirschen, Pflaumen, Aepfel und Birnen, Pfirsiche, Aprikosen etc. zeichnen sich nicht minder aus. Ein Ausflug in die Vierlande zur Obstblüte ist ein köstlicher Genuß – nun aber erst einer zur Obstzeit selbst, wenn Bäume und Sträucher sich unter der Last ihrer Früchte beugen! Das ist ein Vorhaben, welches der Hamburger Jugend die Aussicht auf Freuden eröffnet, die sich nur durch das Wort „Paradies“ einigermaßen andeuten lassen!

Erfreut sich das Kinderherz am Obstsegen, so bewundert die Hausfrau die weiten Gemüsefelder mit ihren Schätzen über und unter der Erde – nein, wie das alles hier steht, es ist ein wahrer Staat! Hier diese türkischen Erbsen, dort die saftigen Gurken; da ein mächtiger Kürbis, dort ein weites, mit rotem Kohl bestandenes Feld!

Ein besonderer, aber nicht häufig vorkommender Zweig der Vierländer Gärtnerei ist die Zucht medizinisch wichtiger Pflanzen für Apotheken und Droguerien. Die Viehzucht ist im Lande verhältnismäßig gering; ein Tier allerdings war in früheren Zeiten auch ein besonderer Handelsartikel der Vierländer – der Blutegel. –

Aber wir sind ja wohl blind! Da laufen wir nun schon eine ganze Weile durchs Land und reden nur von dem, was gut schmeckt oder für die wackeren Bewohner recht einträglich ist – was für Materialisten sind wir doch! Als ob das alles wäre, was unser Interesse fesselt!

Haus – Garten, Haus – Garten –, wie in einem Gedicht lange und kurze Silben abwechseln, so wechseln überall in den Vierlanden jene beiden ab. Wir wandeln, wenn wir uns immer auf dem Deiche halten, stetig durch eine gleichmäßig bewohnte Straße. Von einer Breiteausdehnung der Vierländer Dörfer ist gar keine Rede. Eine einzige lange Straße, das ist der Typus des Vierländer, wie ja jedes Marschdorfes. Nur an wenigen Stellen, z. B. bei den Kirchen, findet sich eine Häusergruppe, die an ein Dorf in landläufigem Sinne erinnert, hier giebt es auch kleine Verkaufsläden und Wirtshäuser.

Da steht so ein stattliches Vierländer Bauernhaus vor uns! Ist es nicht ein prächtiger Anblick, dieses im allgemeinen den Typus eines echt niedersächsischen Bauernhauses wiedergebende, so behäbig und ehrwürdig dreinschauende alte Haus mit dem mächtigen Strohdache und den Pferdeköpfen als Giebelschmuck?

Es sind alte Burschen unter diesen Häusern, bemooste Häupter in des Wortes verwegenster Bedeutung. Die ältesten datierten Häuser besitzt Neuengamme, das älteste von ihnen trägt die Jahreszahl 1559 in dem Hauptbalken eingeschnitzt.

Entsprechend der Eigenart des Landes, wonach das zum Hause gehörige Land hinter dem Hause liegt, kehrt das Vierländer Bauernhaus seine „Grotdör“, die große Einfahrtsthür, dem Felde zu. Die der Straße zugewandte Seite besitzt überhaupt keine Thür, wohl aber befindet sich an den beiden mächtigen Langseiten je eine aus einzeln zu öffnendem Ober- und Unterflügel bestehende „Blankendör“, s. v. w. by-langs-dör, gleichbedeutend mit Seitenthür.

Prächtige Fachwerkbauten sind’s, diese alten Häuser (vgl. die obere Abbildung S. 528). Namentlich die der Straße zugewandte Seite ist reich geschmückt. Die Querbalken sind bisweilen schön geziert mit einfachen Ornamenten, das Werk altgeübter volkstümlicher Techniken, des Kerbschnitzens und der Ausgründung, nach

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 529. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0529.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2019)