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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

ein Lebendig-Toter! Er, dem noch so viel vorbehalten gewesen im Leben, der Entwürfe und Schöpfungen vor sich gesehen hatte noch auf viele Jahre hinaus, mitten im rüstigsten Mannesalter gebrochen!

Der junge Whitemore war kein Weichling, aber der jammervolle Anblick da vor ihm erschütterte ihn sehr. Und während Alix mit leiser, gepreßter Stimme – als ob der unglückliche Mann sie hätte hören können – ihrem Vetter sagte, wie alles gekommen sei, welche Maßregeln man getroffen habe und welche weiteren man noch zu treffen gedenke, hob und senkte sich immer noch gleichmäßig die Brust des hilflos Daliegenden unter dem schneeweißen Linnen.


6.

Noch ein Abend dunkelte herein, eine Nacht sank nieder, ein Morgen stieg herauf, die bleiche Wintersonne stand auf ihrer Höhe …. da endlich kam für den bejammernswerten Mann und für seine gemarterte Umgebung der erlösende Tod, der große Befreier! So rasch, so jäh beendete er nach langem Zögern dies ihm längst verfallene Dasein, daß die Umgebung kaum etwas davon gewahr wurde. Kein Aufstöhnen oder Röcheln mehr – es war mit einem Mal zu Ende! Alix hatte sich gegen die Mittagsstunde über ihren Vater gebeugt, und da hatte sie das Heben und Senken der Brust unter dem Leinen nicht mehr bemerkt. Sie hatte erst an eine Sinnestäuschung geglaubt, dann aber, von einem unheimlichen Angstgefühl erfaßt, Cecil herbeigerufen. Von diesem war rasch nach dem Arzt geschickt worden, welcher nur noch den unmerklich eingetretenen Tod feststellen konnte!

Als jeder Zweifel beseitigt war, entfaltete sich im Josephsthaler Schloß jenes düstere, geschäftige Treiben, das der Tod in seinem Gefolge hat. Doktor Petri hatte auf baldigster Beerdigung bestanden – so wurde beschlossen, die feierliche Beisetzung und Ueberführung der Leiche nach der Kapelle schon am zweitnächsten Tage zu bewerkstelligen. Es gab unendlich viel bis dahin zu ordnen und zu thun. Telegraph und Telephon spielten beinahe unablässig, ein reitender Bote über den andern wurde fortgeschickt. Cecil Whitemore kam kaum vom Schreibtisch des Verstorbenen fort, erbat aber seiner Cousine Bestimmung und Rat bei jedem Schritt, den er unternahm. Schon kamen Josephsthaler Arbeiter, um unter Leitung eines Sachverständigen den großen Saal im Schloß zur Trauerfeierlichkeit herzurichten. Die Direktoren, Ingenieure und Buchhalter erschienen, um der Tochter ihres Chefs ihr Beileid auszusprechen und sich von dem Neffen des Verstorbenen Instruktionen wegen der zu treffenden Anstalten zu holen.

Alix benahm sich, nach Aussage aller, die sie zu sehen bekamen und mit ihr zu thun hatten, bewunderungswürdig. Wie eine Marmorstatue anzusehen, trockenen Auges, ging sie zwischen den Wehklagenden, Fragenden, Geschäftigen einher, gab jedem Auskunft, bestimmte alles bis ins Detail, gab Depeschen auf, konferierte mit Cecil, ohne Ungeduld oder Uebermüdung zu zeigen.

Françoise jammerte, daß „mignonne“ nicht weinen könne, und in der That, so schwer es Alix ums Herz war, die befreienden, schmerzlindernden Thränen wollten sich nicht einstellen. Gegen Abend, als die notwendigsten Anordnungen getroffen waren und alle Besucher, auch die Gerichtskommission, unter deren Aufsicht die Sektion stattgefunden, sich entfernt hatten, ergriff Alix ein unabweisbarer Drang, draußen in der frischen Winterluft zu sein, allein mit ihren schmerzlichen Gedanken und Gefühlen. Rasch entschlossen, befahl sie anzuspannen, und bald saß sie zurückgelehnt in den elastischen Polstern des offenen Schlittens und ließ die eigentümlich weiche und doch frische Winterluft um Wangen und Schläfen hauchen.

Hier draußen war es noch nicht dunkel. Es war viel Sonnenschein am Tage gewesen, jetzt schwammen am westlichen Himmel phantastische Wolkengebilde in rötlicher Glut. Doch bald verwandelten sie sich in bleiernes Grau; gleich einem fahlen Leichentuch breitete sich’s aus über all den farbigen Zauber, dunkle Schatten huschten empor und deckten sich über den letzten schwachen Rosenschimmer – ein einziger langgezogener orangegelber Streifen dehnte sich noch unter dem grauen Flor, aber er hatte nichts Freudiges mehr; ein unheimliches, gespenstisches Leuchten ging von ihm aus.

Alix richtete sich ein wenig in ihrer Ecke empor:

„Ich möchte die Schneidemühle sehen! Fahren Sie mich an den Fluß!“

Gehorsam lenkte der Kutscher seine Pferde links um und bog in den abschüssigen Weg ein, der hinab ans Stromufer führte.

Der Fluß lag offen, scheinbar ohne Bewegung, zwischen seinen Ufern. Wie ein schwarzes, glasig schillerndes Riesenband wand er sich durch seine leuchtend weiße Umgebung. Die Ufer waren hier ziemlich hoch – – im Frühling und Sommer war es wunderhübsch an dieser Stelle, Alix hatte als Kind ihre schönsten Blumen da gefunden.

In jener Zeit hatte den Fluß idyllische Einsamkeit umgeben, jetzt standen Häuser und Häuschen zu beiden Seiten, und aus denen, die am entgegengesetzten Ufer standen, blinkten Lichter wie freundliche, tröstende Augen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden, und der Riesenwürfel der Schneidemühle leuchtete mit beinahe stechendem Glanz durch die Finsternis. Dasselbe Stampfen, Dröhnen und Fauchen schallte zu Alix herüber, das sie am Abend ihrer Ankunft gehört hatte, es war, als ob der Boden unter ihr erbebe, wie ihr Schlitten näher kam. Hier gingen keine Menschen an den Seitenwegen entlang wie drüben. Die größeren Häuser, in denen nach Ueberwegs Aussage die Beamten wohnten, waren alle hell erleuchtet. Der Schlitten fuhr an dem ungeheuren Fabrikgebäude vorüber und ließ es weit hinter sich.

Alix empfand eine peinigende Unruhe; sie ertrug das Stillsitzen nicht länger.

„Halten Sie hier still, ich will eine kleine Weile auf und nieder gehen. Sie dürfen sich keine Sorge machen, ich bleibe ganz in der Nähe!“

„Wie gnädiges Fräulein befehlen!“

Sie hatte Mühe, aus den Pelz- und Fußdecken, die Vetter Cecil sorglich um sie gebreitet und gewickelt hatte, heraus und auf die Erde zu kommen. Die vielen Hüllen waren ihr zu heiß gewesen bei dem weichen Wetter, ihre geöffneten Lippen tranken durstig die feuchte Luft, während sie rasch zuschritt. Ihr war es seltsam zu Mut: als habe sie ihres Vaters schweres Krankenlager und seinen Tod nur geträumt, als müsse sie in Frankfurt in ihrem schönen, behaglichen Mädchenhelm erwachen und ihre Maria um sich haben, und alles, alles sei, wie es zuvor gewesen.

Da kam etwas durch die dunkle, stille Luft – wieder …. wieder! Ein Ton – ein Klang – woher denn?

Alix schritt hastig voran, dem Klange entgegen, und der Weg, den sie eingeschlagen, um den leise herüberklingenden Tönen näherzukommen, war der rechte gewesen – hier aus dem zierlich gebauten Häuschen, das vereinzelt dastand, wenn auch die ganze Umgebung darauf hindeutete, daß es in kurzer Zeit Nachbarschaft bekommen würde, drangen die Klänge, und das junge Mädchen, dessen Atem von dem eiligen Gang auszusetzen drohte, stand still und horchte. Es wurde Klavier gespielt, und das Pianoforte stand offenbar nahe den rechtsgelegenen Parterrefenstern des im Schweizerstil aufgeführten Gebäudes; nur diese zwei Fenster waren hell. Durchsichtige Gardinen hingen vor den Scheiben, der Schatten eines Mannes zeichnete sich an einer derselben ab. Und nun konnte sie auch die Melodie hören, die drinnen gespielt wurde:

„Am stillen Herd – in Winterszeit!“ Das Werbelied Walther von Stolzings aus den „Meistersingern“!

Die schöne, reizvolle Melodie, aus der es wie Blumenatem quillt und wie treue, liebe Menschenaugen uns ansieht, wurde innig und einfach gespielt, und soweit ein guter und warm empfindender Spieler es fertig bringen kann, einem Pianoforte Töne zu entlocken, daß es ähnlich der menschlichen Stimme klingt, geschah es hier; ihr war, als hörte sie die Worte:

„Am stillen Herd, in Winterszeit,
Wenn Burg und Hof mir eingeschneit,
Wie einst der Lenz so lieblich lacht’,
Und wie er bald wohl neu erwacht – –“

Das Lied ergriff Alix im Innersten, die holden Klänge lösten mit mildem Trost die Spannung in ihrem Herzen, und da – da konnte sie endlich weinen!

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0524.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2022)