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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Am Morgen war sie in den Sibyllenturm nicht gekommen, um sich Rat zu holen, nur um zu sagen: Er ruft mich und ich will mit ihm gehen.

Jetzt kniete sie vor Renate und hatte das Gesicht in die flachen Hände der alten Tante gelegt, die sich zitternd an ihre Wangen schmiegten.

„Kind! Kind!“ flüsterte sie, und:

„Luise, bestes Kind,“ sprach Charlotte, die neben sie getreten war und ihr die Rechte zärtlich aufs Haupt legte. „Wir begreifen ja. Folge du der Leitung deines eigenen Herzens; es führt dich gut. Du bist eine der wenigen, zu denen man sagen darf: Wo deine Liebe ist, da ist deine Pflicht.“

„Eines, nur eines –“ Renate bemühte sich, Luise emporzuheben – „die Religion.“

„Ich werde in der meinen leben und sterben, gute Tante Renate,“ sprach Luise, richtete sich auf den Knieen auf und schlang beide Arme um die schmächtige Gestalt der Greisin. „Ich bin kein starker Geist, der des Glaubens entraten kann, aber nicht so schwach, daß irgend ein Einfluß, und würde er durch den mir teuersten Menschen ausgeübt, mich in meiner heiligsten Ueberzeugung wankend machen kann.“

Für einen im Schlosse war die Kunde, daß Luise die Heimat verlassen und weit in einen anderen Weltteil reisen würde, eine Freudenbotschaft – für Hanusch. Der Himmel hatte sich seiner erbarmt und ihm einen Weg zur Rettung gewiesen. Er kam zu Fräulein Luise und bat sie, daß sie ihn mitnehmen möge, als Kutscher, als Diener, als was sie wolle. In Velice hielte er es nicht mehr aus. Wer ihn ansah, was ihn ansah, und wenn die Menschen auch nicht sprachen und das andere nicht sprechen konnte, er hörte es doch. … Die Menschen, die Pferde, die Hunde, der Wald schrieen ihm zu: Du bist am Tod deines Herrn schuld. Er mußte fort, und wenn Fräulein Luise ihm nicht erlauben will, mit ihr zu gehen, so geht er allein, Herr Joseph ist auch allein gegangen.

In diese traurige Notwendigkeit wurde er aber nicht versetzt, denn Luise sagte: „Was sind das für Geschichten, Hanusch? Ich nehm’ dich gern mit. Mir wird sein, als wenn ich ein Stück Heimat mitgenommen hätte.“




Der Hochsommer war da. In Garben gebunden lag das schwere, fruchtstrotzende Getreide auf den Feldern. Joseph hatte seine Landung in England angezeigt, den Tag seiner Ankunft aber noch immer nicht. Er wartete. Seine Schwester erriet wohl worauf. Er wollte die Braut Bornholms nicht mehr daheim finden. – Noch fühlte er sich nicht völlig gefeit, noch zitterte etwas von seiner ersten großen Liebe in ihm nach.

Endlich durfte Elika ihm doch schreiben: Komm’! Die Tanten waren aus Wien zurückgekehrt; sie hatten ihre Luise zum Altar begleitet und befanden sich in weicher, wehmütiger Stimmung, schienen aber von jeder herben und peinigenden Sorge um das zeitliche Wohl und das ewige Heil ihres Lieblings befreit.

„Wenn Bornholm seinen Treuschwur nicht hält,“ sagte Charlotte nachdrücklich und energisch, „dann geht die Sonne nächstens schwarz auf. Ich habe nie einen solchen Ausdruck, einen so konzentrierten, von Glück, Ernst, Kraft, und ich behaupte guten Vorsätzen im Gesicht eines Menschen gesehen, wie er ihn die ganze Zeit hindurch hatte. Nie!“ und sie ließ einen strengen Blick über die ganze Gesellschaft gleiten, als ob sie es allen übelnehmen würde, daß sie nicht auch einen solchen Ausdruck besaßen.

„Sie werden sehen, Hochwürden,“ wendete Renate sich an den Pfarrer, „er wird nicht sie zur Heidin, sie wird ihn zum Christen machen.“

„Gott gebe es und Gott segne sie, Gott segne beide,“ erwiderte der geistliche Herr.

Die Wangen Elikas glühten, ein feuchter Glanz schimmerte in ihren Augen. „Wie war also Herr Bornholm?“ fragte sie, und Charlotte sprach feierlich:

„Vertrauen einflößend.“

Nach einer Weile stellte Kosel die Frage auf, ob die Zeitungen nicht vielleicht eine Notiz über die Vermählung Bornholms mit Luise bringen würden: „Was meinst du, Elika?“

Alle Augen wendeten sich nach dem Platze in der Ecke neben dem Kanapee, an dem sie gesessen hatte – er war leer. Sie hatte sich fortgestohlen aus dem Zimmer, aus dem Hause, sie war durch den Garten gegangen, immer rascher und rascher, sie rannte zuletzt wie gejagt. Ihrem Fichtenhaine am Ende des Gartens rannte sie zu, warf sich dort zur Erde, drückte ihr Gesicht ins feuchte kühle Moos und weinte und schluchzte sich aus. Wirklich: aus, bis ihr schien, als hätte sie keine einzige Thräne mehr. Dann stand sie auf. Es war ihr plötzlich gekommen: Ist es nicht unwürdig, sich wie verzweifelt zu gebärden um einen, der nie verborgen hat, wie gleichgültig man ihm ist? Durchaus unwürdig einer jeden und nun erst ihrer, die einen so tapferen Bruder gehabt hatte.

Von neuem füllten ihre Augen sich mit Thränen, das waren aber andere, die erpreßte ihr nicht der Gedanke, daß Levin Bornholm nun eine Frau hatte, die ihn lieben darf, die ihn erlösen wird. … Elika breitete die Arme weit aus: „Franz, mein Lieber, siehst du mich? weißt du etwas von mir? … Ich denke immer an dich, wie gut und stark du gewesen bist … und ich will auch stark sein, deine echte Schwester will ich sein.“

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Der schönste Tag brach an, ein Morgen voll Sonnenschein und Vogelgesang, voll Waldesrauschen, glitzerndem Tau und süßem Duft der reifen Aehren. Da kehrte der Erstgeborene des Hauses heim.

Er war über Wien gekommen, hatte ein beglückendes Wiedersehen mit Leopold gefeiert. Den Namen dessen, den er nie wiedersehen sollte, sprach nicht er und sprach keiner aus; aber er schwebte auf allen Lippen, einer las in den Augen des anderen: Auch du denkst an ihn!

Nach den ersten stürmischen Begrüßungen ging Joseph im Hause herum und im Garten, und fragte alle Augenblicke: „War ich denn wirklich fort? Mir ist, als wär’ ich gar nicht fortgewesen.“

„Nicht fort, böser Mensch, nach dem man sich fast zu Tod gesehnt hat?“ rief Apollonia. Frau Heideschmied hingegen verstand, was er sagen wollte, und daß es etwas sehr Affektueuses war, und die Tanten fanden das auch, obwohl sie ihm nicht zugehört, sondern ihn immer nur verzückt betrachtet hatten. Heideschmied war trotz aller Dürre im Zustand des Zerschmelzens:

„Balder!“ sagte er, auf Joseph deutend, zu den Tanten: „Sehen Sie ihn doch an, meine Gnädigsten – Balder!“

Gewiß, er war herrlich geworden, groß und schön, ein Ebenbild seines Vaters, aber ein beseeltes, voll Energie und Kraft und Thätigkeitsdrang. Seine Heimkehr verhieß das Eintreten einer neuen Zeit. Bald wird es lebhaft werden im stillen Velice, seine langverschlossenen Thore werden sich gastlich öffnen, die Jugend wird Jugend heranziehen und die Alten werden sich der Wärme und des Lichtes freuen, die da hereinbrechen und ihnen die letzten Jahre durchsonnen und erhellen.

Im Kopfe Kosels mußten ähnliche Vorstellungen dämmern, denn mit stolzem Lächeln und allerliebreichsten Blicken sagte er zu den Angestellten und Beamten, die herbei eilten, Joseph willkommen zu heißen, ihn gleichsam vorstellend: „Der junge Herr!“

Am Abend, als man sich im wundervollsten Mondenscheine unter den Nußbäumen versammelt hatte, fragte Joseph:

„Und Tante Luise – fort für immer?“

„Das nicht,“ erwiderte Charlotte. „In einigen Jahren besucht sie uns, sie hat es versprochen.“

„Da wollen wir Vrobek indessen in ein Schmuckkästchen verwandeln, nicht wahr, Papa?“

„Und Valahora in eine Sehenswürdigkeit,“ fiel Elika ihrem Bruder ins Wort. „Es muß im Baedeker stehen, mit einem Sternchen.“

Joseph erhob sich, ging auf sie zu und schloß sie in einer unwiderstehlichen Anwandlung von Zärtlichkeit an sein Herz. „Du Kleine,“ sagte er.

„Die Kleine, ja,“ wiederholte Kosel. „Du erinnerst dich doch noch deiner Mutter, Joseph? Ist sie ihr nicht ganz ähnlich geworden, deiner Mutter?“

„Ganz ähnlich. Keine arme Kleine mehr, wie bei unserer Trennung. … Unsere Trennung – Elika, weißt du noch?“

„Ich weiß alles,“ erwiderte sie und fügte hinzu: „Morgen ganz früh, bald nach Sonnenaufgang gehen wir nach Vrobek, wir zwei.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0512.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)