Seite:Die Gartenlaube (1898) 0503.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wäre, wie sich ein schlafmüdes, junges Menschenkind in Kissen und Decken einhuschelt, um dann sogleich sanft einzuschlummern. Die Alten liegen meist ruhig und warten, bis es dem säumigen Schlaf beliebt, sich bei ihnen einzustellen. Aber nichts rührte sich; nur gegen die Fensterscheiben schlug leise draußen ein Epheuzweig, der sich im Herbstwind wiegte. Sie horchte und horchte, ob ihr Mann nicht in sein Schlafzimmer gehe; aber es blieb still, ganz still, lautlos still, und ebenso still schien draußen der Vollmond auf die Dächer, hier so gut wie in Hamburg. Und wieder dachte sie des Kindes, das heute fortgezogen war mit dem geliebten Mann aus dem Vaterhaus, wie sie es einst gethan an ihrem eigenen Hochzeitstage.

Auch der alte Mann, der unten allein geblieben ist, spürt den Zauber des Mondes, der längst Vergangenes wachruft. Ueber die Zeitung hinweg schaut er durch das Fenster zum Vollmond hinauf. Gerade solch ein Abend war es, als sie hier zum erstenmal ins Haus traten, der junge Fritz Bünau mit seiner noch jüngeren Frau Christel. Damals bezogen sie es nur zur Miete; erst später konnte er das Haus kaufen, als die Kornpreise so mächtig in die Höhe gingen. Ja, in dieses Zimmer hatte er sie geführt und leise gesagt: „Christel, wir sind jetzt allein und müssen aneinander genug haben fürs ganze Leben!“

Da hatte sie die weichen Arme um seinen Hals geschlungen und gebeten: „Hab’ mich nur lieb, Fritz, mehr will ich nicht in der Welt! Du bist mir genug fürs Leben.“

Nach einem Jahr kam ein kleiner Junge an, doch starb er bald, und die Eltern trösteten sich mit ihrer jungen Liebe, bis die Mädels sich einstellten, die sie mit Jubel begrüßten. Papa Bünau legte die Hand über die Augen.

Me kam’s denn nur, daß alles so anders wurde? Nun, die Kinder nahmen die Mutter in Anspruch; um die beiden Mädchen begann sich ihr Leben zu drehen. An ihn stellte dafür das Geschäft immer größere Anforderungen, und die Erziehung der beiden lieben Gören mußte er der Mutter überlassen; er verstand sich ja auch wenig darauf. Und als vor sechs Jahren Christine krank wurde, mußte Frida, die Aelteste, sie pflegen, und er richtete sich das kleine ehemalige Kinderzimmer ein und schlief dort. So war es geblieben, als dann Anni die Genesene ins Bad begleitet hatte und die große Schwester ihm inzwischen den Haushalt führte. So war es geblieben, als Frida dem Gatten in die Fremde gefolgt war und Anni das gemütliche Stübchen neben dem Schlafzimmer der Mutter allein für sich behielt, das sie in der Zwischenzeit mit der älteren Schwester bewohnt hatte.

Der alte Mann wurde unruhig und trat ans Fenster.

Wie wenig hatte er von seiner Frau all die letzten Jahre gehabt! Gewiß, sie hatten nebeneinander auch weiter in Eintracht gelebt, aber die alte Vertraulichkeit war ihnen verloren gegangen. Wie war das nur so gekommen; mußte denn das so sein im Leben? Er ging zur Thür, öffnete sie und horchte gespannt auf den Korridor hinaus; dann schritt er ihn hinab, stieg zum oberen Stock empor und blieb vor dem Schlafzimmer seiner Frau stehen. Ihm war es, als müsse er zu ihr gehen, ihr etwas sagen; aber als er keinen Laut vernahm hinter der Thür, nicht einmal ein tiefes Atemholen, schlich er langsam in sein Schlafzimmer. Nein, er wollte sie nicht stören, sie bedurfte der Ruhe.

Sie aber schlief noch nicht, sondern lag nur reglos da und horchte auf das Rascheln des Epheus am Fenster.

In diesem Zimmer kamen die beiden Mädchen zur Welt; diese jetzt so stillen Wände hatten den ersten Schrei gehört, mit dem sie das Leben begrüßten, hier neben ihr hatte er, der Vater, auf den Knieen gelegen und ihr den Dank für die zappelnden Schreihälse ins Ohr geflüstert. Was für ein gemütvoller Mann er doch früher war! Die Nächte waren oft unruhig, denn die Mutter wollte stets das Jüngste neben sich haben, so daß sie ihrem Mann den Vorschlag machte, doch in einem anderen Zimmer zu schlafen.

Da hatte er sie so sonderbar angesehen und ganz leise gefragt: „Willst du mich los sein, Christine?“

Hatte sie denn später den Mann verloren? Nein, er war da gewesen, aber die Kinder waren auch da und wurden immer größer, nahmen immer mehr Raum ein im Hause und vielleicht auch im Mutterherzen!

Sie schrak ordentlich zusammen, und es wurde ihr plötzlich sonnenklar, ganz sonnenklar, daß sie aus der Liebe zu ihrem Mann eine Gewohnheit hatte werden lassen, daß sie damit gewaltet hatte wie mit etwas Selbstverständlichem, das keiner besonderen Hut und Pflege bedarf. Der Kinder wegen, um sie zu erziehen, hatte sie die kleinen Aufmerksamketten und Hilfsleistungen, mit denen sie früher ihrem Mann ihre Liebe im Alltagsleben bekundet, von diesen verrichten lassen. Frida, dann Anni, hatten sie im Hauswesen ersetzt – nun waren die Kinder fort, und sie, die Alten, saßen da mit ihrer darbenden Elternliebe im Herzen, sich selbst entfremdet.

Sie weinte still vor sich hin, weinte, weinte, bis sie einschlief.

Herr Bünau wachte am nächsten Morgen früher auf als gewöhnlich, und als er hinunterging, sagte er der Köchin, er wolle mit dem Frühstück warten, bis seine Frau käme.

Herbstsonnenschein lag über dem kleinen Gärtchen; hier und da gab es noch verspätete Rosen und die Astern standen in voller Blüte. Der alte Herr ging langsam auf und ab; er freute sich über das schöne Wetter und dachte an Anni. Der Schwiegersohn würde ihr seine Vaterstadt zeigen; vielleicht frühstückten sie eben im Alsterpavillon und machten dann eine Fahrt nach Uhlenhorst.

Dabei betrachtete er nachdenklich eine Rosenknospe, während ein frohes Lächeln seine Züge verjüngte. Rasch lief er ins Haus, um eine Blumenschere zu holen.

Christine hatte ihn, durch die Jalousien blickend, beobachtet und beeilte sich mit der Morgentoilette.

Für wen nur schnitt ihr Mann all die Blumen ab? Es kam eine Unruhe über sie, die sie selbst nicht verstand; sie mußte sich sogar einigemal auf einen Stuhl setzen, weil sie Herzklopfen bekam. Gewiß wollte er ein Bouquet an Anni schicken als Gruß aus dem Vaterhause. Fast so behende, als sei sie wieder eine junge Frau, eilte sie die Treppen hinunter in das Eßzimmer, wo der Frühstückstisch, der Tisch ohne Einlage, gedeckt war. Sie überflog ihn mit den Augen.

Richtig! Anni pflegte dem Vater die Zeitung neben die Tasse zu legen und Feuerzeug nebst Aschenbecher auf den Tisch zu stellen, damit er sich seine Morgencigarre mit Behagen anzünden konnte.

Rasch ordnete Frau Bünau alles so, wie er es gewohnt war, und weil ihr einfiel, wie gern er früher Honig zum Frühstück gegessen, eine Liebhaberei, die er später aus Sparsamkeit aufgegeben hatte, schickte sie die Köchin fort, um Scheibenhonig zu kaufen.

Schon klangen seine Schritte auf dem Flur, und dann kam er herein, einen taufrischen Strauß Blumen in der Hand tragend. Offenbar hatte er nicht erwartet, seine Frau schon hier zu finden, denn er blieb ganz verwirrt an der Thür stehen mit einem etwas enttäuschten Gesicht, und seine Verlegenheit wurde noch größer, als sie rasch mit einem „Guten Morgen, Fritz!“ auf ihn zukam und ihm einen herzhaften Kuß gab; während er, in der einen Hand die Blumen, in der anderen die Rosenschere, ganz steif dastand.

Papa Bünau suchte nach Worten, die jungen Ehemännern so leicht über die Lippen kommen und die alten Lippen so schwer werden können.

„Weshalb bist du denn so sonderbar, Alter?“

„O nichts! Gar nichts! Setz’ dich nur, Mutter!“

Dabei fiel sein Blick auf die Zeitung und auf die Glasschale mit goldgelbem Honig.

„Wie es Anni wohl geht?“ sagte er ganz mechanisch.

„Sie wird sich über das schöne Wetter freuen, Fritz!“

„Ja, ja, gewiß, das glaube ich auch.“

Mutter Christine tunkte ein Hörnchen in den Kaffee und beobachtete ihn heimlich. Er räusperte sich einigemal, gab sich dann einen Ruck, marschierte gerade auf sie zu und streckte den Arm mit den Blumen aus, gerade über ihre Kaffeetasse.

„Da, Christel! ’s ist besser, man schneidet sie ab, ehe Nachtfröste kommen!“

„Fritz, lieber Fritz! wie lieb von dir!“

„Ja, ja, schon gut!“

Und ganz verschämt machte er den Weg um den Tisch herum nach seinem Platz.

Sie nahmen stumm das Frühstück ein; er vertiefte sich in die Zeitung, und sie holte eine Handarbeit und setzte sich damit ans Fenster, wo sie den Sonnenschein sehen konnte, bis der Dienstmann kam, der Annis Bettstelle auf den Boden bringen sollte.

Im ersten Stock dröhnten dann schwere Männerstiefel, hier und da wurden einige Worte gewechselt und Möbel gerückt.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0503.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2022)