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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


Teufel ist seit Jahrhunderten tot; er war ein Hunne oder Chorruzze oder Tatar, kurz irgend einer der vielen mongolischen Leute, die sengend, brennend und raubend unzähligemal über die Grenze gebrochen sind und diese arme Gegend jahrhundertelang verwüstet haben. Solche kleinköpfige Skelette mit fliehender Stirne und krummen Beinen findet man hier überall, wo man tiefer in die Erde gräbt.“ Später sandte ich den Schädel an den berühmten Anatomen Hyrtl in Wien, dessen Schädelsammlung die größte der Erde war, und bat ihn von Amts wegen um sein Gutachten. Auch er bestätigte, daß der Schädel einem Manne mongolischer Abkunft gehört hätte und daß die Knochen jedenfalls mehrere hundert Jahre in der Erde gelegen haben müßten. Obwohl ich dafür sorgte, daß dieses autoritative Gutachten unter der Bevölkerung verbreitet wurde, ließ diese nicht von ihrer eigenen Ueberzeugung ab.

Schon damals, als ich an der Grube auf den Gerichtsarzt gewartet hatte, teilte man mir mit, daß wir hier die Ueberreste eines erschlagenen und beraubten Juden vor uns hätten. Derselbe sei ein wohlhabender Viehhändler gewesen, habe vor einigen Jahren in der Nähe übernachtet und sei von da an verschwunden. Man habe auch immer gewußt, daß der Jude hier verscharrt sein müsse, da gerade an dieser Stelle allemal zu Neumond, nachts von 12 bis 1 Uhr, eine blaue Flamme über der Erde tanze. „Das ist auf allen Judengräbern so,“ belehrten mich die Leute. Unglücklicherweise befand sich in der Nähe des Fundortes ein kleines Häuschen, in dem ein alter Mann lebte; er war einsam, verschlossen und mürrisch, verkehrte mit niemand, ernährte sich bescheiden, aber auskömmlich – wovon, wußte man nicht. Zudem war er nicht aus der Gegend, alles zusammen für die Nachbarn Grund genug, um in ihm einen „verdächtigen“ Menschen zu sehen. „Der Jude war verschwunden, nachdem er in der Nähe des verdächtigen Hauses übernachtet hatte, nicht weit von demselben tanzte die blaue Flamme, nun fand man dort Knochen – folglich hat der Bewohner des verdächtigen Hauses den Juden erschlagen“ – das war die zwingende Schlußfolgerung der Bevölkerung, und alles Reden und Beweisen half nichts. Der alte Mann, dem niemand das geringste Unrecht nachweisen konnte, blieb in der Volksmeinung bis zu seinem späten Tode der Mörder des erschlagenen Juden. Man hatte sogar in seiner Heimat Erhebungen gepflogen und erfahren, daß er früher ein wohlhabender Grundbesitzer gewesen war, der Frau und Kinder verloren hatte; dem angesehenen und geachteten Mann war durch dieses Unglück die Heimat verleidet, er verkaufte alles, zog in die Ferne und lebte da von dem Ertrage seines Geldes. Diese Nachricht half gar nichts: „wie verschlagen muß der Alte sein, daß er alle so zu täuschen wußte – die blaue Flamme beweist doch, daß er ein Mörder ist!“

Wie viel tausend Leidensgenossen mag nicht dieser arme Alte im Laufe der Jahrhunderte gehabt haben und noch haben, die verachtet, gemieden, ja oft auch angezeigt und vielleicht unschuldig verurteilt wurden, lediglich wegen eines grauenhaften Aberglaubens.

Gefährlicher als sie aussehen, sind die sogenannten „Segen“, Zaubersprüche, welche den, der sie braucht, schützen, seine Feinde verderben oder doch schädigen sollen. Unser Volk besitzt die ältesten derselben in Odins Runenliedern; das 21. Runenlied z. B. machte hieb- und stichfest. Im Laufe des Mittelalters mag man die Segen zu Tausenden und aber Tausenden gekannt und gesprochen haben, und in noch sehr großer Zahl leben sie auch heute noch. Ihre Gefährlichkeit beruht darin, daß eine Menge von Verbrechen nicht verübt worden wäre, wenn nicht irgend ein Segen dem Thäter zu seiner That Mut gemacht hätte. Der Wilderer stellt ungescheut den Tieren nach, wenn er einen sicheren Weidsegen gesprochen hat; ja er wagt es auch, mit dem Jäger anzubinden, vor dem er sonst geflohen wäre, bloß weil er sich durch einen verläßlichen Segen schußsicher gemacht hat, und weil er einen anderen Segen kennt, mit dem er den Jäger im gefährlichen Augenblick am Schießen hindern kann. Der Dieb wagt es, einzubrechen, weil er über einen Segen verfügt, der Schmuggler wagt seine gefährlichen Gänge nur unter dem Schutze seines Segens, und auch das tückische Gift wird mit den Worten eines Segens gebraut und gegeben. Alles wäre ausgeblieben, wenn der Segen nicht Courage gemacht hätte.

Wie häufig die Segen sind, zeigt jedes Buch, das sich mit Volksglauben und Verwandtem befaßt, überall sind sie in Unmenge zu finden, und jedesmal staunt man über den unermeßlichen Unsinn, den sie meistens enthalten.

In der Praxis findet man sie häufiger als man annehmen sollte. In der Haupt- und Residenzstadt Wien wurde noch 1894 anläßlich einer Untersuchung wegen eines großen Gelddiebstahles auf dem Reste des Gestohlenen ein Segen gefunden; er lautet sinnig:

„Ich trat in des Richters Haus
Da schaun drei tote Männer heraus.
Der erste ist stumm,
Der zweite winkt mir zu –
O hilf mir, heilige Muttergottes von Lanzendorf[1]!“

Wie der Dieb später gestand, durfte er das Gestohlene ungescheut und frei in seinem Kasten liegen lassen, da er sich durch den Segen vor jeder Entdeckung gesichert glaubte.

Einer der besten Kenner des Volkes unserer Berge, Jos. v. Franck, hat in einer trefflichen kleinen Schrift über „magisches Weidwerk“ zahlreiche Segen von Wildschützen gesammelt; will man sich z. B. gegen die Kugeln der Jäger und Wildhüter festmachen, so trägt man die Worte bei sich: „Hell, best! Klate mati! Atomay, klona Slott!“ Will man machen, daß die Büchse des Jägers versagt, so spricht man: „Afu, Afia, Nostra“. Schaut man dem Jäger aber unverwandt auf die Rohrmündung und sagt: „Pax, Sax, Syfax“, so kann dieser überhaupt nicht schießen. Wie mancher arme Teufel mag hinwieder diesen Glauben mit dem Leben bezahlt haben, welches er hätte retten können, wenn er geflohen wäre.

Alle diese Beispiele gewähren uns tiefe Einblicke in Verirrungen menschlichen Denkens und Empfindens. Sie lehren uns, wie weit verbreitet noch der Aberglaube ist und wieviel Unheil er in der Welt anrichtet. Darum darf man ihn nicht für eine längst überwundene Macht halten, sondern muß ihm unentwegt entgegentreten, bis Bildung und Aufklärung den finsteren Feind der Menschheit aus seinen letzten Schlupfwinkeln verdrängt haben.


  1. Wallfahrtsort in der Nähe von Wien.


Wieder allein.

Novelle von Ernst Clausen (Claus Zehren).


Nun hat auch der letzte Hochzeitsgast Abschied genommen; im Fortgehen wendet er sich noch einmal um und schwingt grüßend den hohen, glänzenden Cylinder. Er ist ein alter Junggeselle und längst hinaus über sentimentale Anwandlungen, aber das Bild der beiden einsamen Alten, wie sie in der Hausthür stehen und ihm nachwinken, stimmt ihn melancholisch.

„Jetzt können sie wieder von vorn anfangen!“ murmelt er vor sich hin und macht große Schritte, um zum Stammskat nicht zu spät zu kommen. Die Straße ist ganz menschenleer, der Abendsonnenschein fällt auf die vergoldeten Spitzen der eisernen Gartenstakete, die grünen, kugelrund gestutzten Akazien tasten mit den Blättern leise im Abendwind auf und ab, und auf den Treppenstufen vor dem Hochzeitshause liegen noch einige Rosenknospen.

Papa Bünau stieg langsam die wenigen Stufen hinab und suchte aus den halbverwelkten noch eine leidlich frische heraus.

„Da, Mutting,“ sagte er und reichte ihr die Knospe hinauf.

„Danke, Fritz,“ antwortete sie kurz und drehte die Blume am Stiel in der Hand. Noch glitzerten einige Thränenspuren auf den runzeligen Wangen der würdigen alten Dame.

„Komm, Christine! es wird zugig hier in der Thür.“

Damit ging ihr Mann an ihr vorbei ins Haus, um den Frack auszuziehen und den weißen Schlips mit einer schwarzen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0500.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2022)