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an ganz prächtig in der Gabel gegangen, und ihn zu lenken, machte der armen Kleinen trotz der tiefgedrückten Stimmung, in der sie sich befand, doch einiges Vergnügen. Kein großes und kein andauerndes, wie sich von selbst versteht. Die momentane Heiterkeit flog über ihr kummervolles Herz, wie ein lichter Falter an einem dunklen Wolkenhintergrund vorüberfliegt. Hätte Joseph ahnen können, was er ihr mit seinem Brief an Luise angethan! Wie verstoßen sie sich vorkam aus jedem Bereich des Glückes und der Freude auf Erden! Ja, verstoßen war sie und beraubt um eine im tiefsten Heiligtum ihrer Seele glimmende Hoffnung, so wundervoll und himmlisch, daß sie nie in Erfüllung zu gehen, nur still und ungetrübt fortzuleuchten brauchte, um ein ganzes Leben schön zu machen.

Die Ihren quälten sich in erneuten Sorgen um sie. Seit einiger Zeit war sie wieder mehr denn je die arme Kleine, obwohl noch im letzten Jahr so rasch aufgeschossen, daß sie beinahe die stattliche Größe Tante Renatens erreicht hatte. Dabei überschlank und überzart und oft leidend, ließ sie sich immer noch gern bedauern. Besonders von ihrem Bruder Franz, dem sie nie versäumte zu klagen, daß sie Herzklopfen gehabt habe. Er blickte sie dann jedesmal so eigentümlich und mit so warmem Mitleid an, strich ihr über den Kopf und sagte:

„Arme Kleine, kränke Sie sich nur nicht.“

Der Doktor behauptete zwar, daß ihr Herzklopfen gar nichts zu bedeuten habe, sie wußte das aber besser und trug sich, besonders zu Beginn ihres sechzehnten Jahres, mit Todesgedanken. Sie machte auch ihr Testament, in dem Bornholm mit einem Ring und mit einigen Versen bedacht war, die ihm Elikas innige Liebe offenbarten. Nachdem ihre letztwilligen Anordnungen getroffen waren, versöhnte sie sich mit der Wahrscheinlichkeit, die ja doch vorhanden war, dem Leben einstweilen erhalten zu bleiben. Bis zu Josephs Rückkehr und ein bißchen drüber hinaus, ein halbes Jahr etwa. Um die Freude des Wiedersehens sollte er nicht gebracht werden, die möge der gnädige Himmel ihm noch gewähren!




Bei seiner Rückkehr nach Velice sollte Joseph durch allerlei Verbesserungen und Verschönerungen im Schlosse und im Wirtschaftshofe überrascht werden. Die letzte, die noch vorgenommen wurde, war die Regulierung der Zufahrt zu den neuen Oekonomiegebäuden und das Abtragen einer längst außer Gebrauch gesetzten Scheuer. Die Arbeit begann an einem feuchten kühlen Vorfrühlingsmorgen und war schon im vollen Gange, als Franz sich von ihren Fortschritten überzeugen kam. Heideschmied war schon am Platze, stand da mit verschränkten Armen und sah zu, wie die Zimmerleute die Dachbalken teils an Seilen befestigt zur Erde gleiten ließen, teils zu Boden schleuderten. Nun ging’s an die Sparren und mit Staunen sah man Freund Hanusch auf der Höhe erscheinen, das Beil schwingen und eifrig mitthun.

„Sehen Sie doch den Hanusch,“ sprach Heideschmied, „es kommt ihm in die Finger, die Lust am alten Handwerk meldet sich. Und – zerstören, wenn die Menschen zum Zerstören berufen werden, wie geht da die Arbeit vom Fleck! Beobachten Sie, lieber Franz, das Gebaren derselben Leute beim Aufrichten und beim Niederreißen eines Baues. Wie lässig im ersten, wie eifrig im zweiten Fall.“

Franz machte sich diese Bemerkung seines Erziehers nicht zu nutze; er hatte seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet. „Verflucht gefährlich, die Geschichte,“ sprach er. „Wo ist der Polier?“

Der Polier, ja, der war schon vor einer Weile fortgegangen.

Ob er nicht befohlen habe, die Mauern zu pölzen, namentlich die vordere, die am steil abfallenden Rand der Böschung, die rissige, unten vom Regen ausgewaschene Mauer, auf der gerade jetzt Hanusch steht.

Die? ja die – man weiß nicht, kann sein, daß er’s befohlen hat. Ueberflüssig ist’s, sagen alle.

Eine heiße Blutwelle schoß Franz ins Gesicht. Wie es jetzt nur zu oft geschah, brach er plötzlich in heftigen Zorn aus: „Herunter! gleich herunter! seid ihr verrückt?“

Die Arbeiter drüben auf der rückwärtigen Seite des Baues schienen durch seinen Zuruf eher ermuntert als abgeschreckt, ein paar von ihnen begannen wuchtig auf das Mauerwerk einzuhauen. Franz, zur Wut gereizt, wetterte ihnen ein derbes Wort zu und schrie zu Hanusch hinauf: „Hierher du, dir befehl’ ich’s!“

Der Bursche auf seinem gefährlichen Posten wendete sich: „Komm’ schon, aber gschicht nix!“ rief er beruhigend seinem Herrn zu. Die nächste Sekunde strafte ihn Lügen. Die unterwaschene Wand senkte sich. Ein splitterndes Getöse, ein dumpfes Krachen, ein Bersten, Stürzen. Atemraubend stieg ein gelblicher Brodem in dichten Wolken in die Luft – Staub, der qualmend wie Rauch aus dem Trümmerhaufen stieg, unter dem Hanusch begraben war.

Franz stürzte zur Unglücksstätte hin und war im nächsten Augenblick von den Arbeitern umgeben, die schreiend und gestikulierend oder mit stumpfsinnigem Gleichmut die Thatsache feststellten, daß die Hälfte der Mauer eingefallen und daß einer, der früher auf ihr gestanden hatte, jetzt unter ihr liege.

„Also! also!“ rief Franz ganz außer sich, ergriff einen Spaten und wies auf eine bestimmte Stelle im Schutte: „Ausgraben! helft! helft! da muß er sein … Ich weiß genau, ich hab’ ihn stürzen seh’n.“ Zum Entsetzen Heideschmieds handhabte er sein Werkzeug mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte, mit rasender Unermüdlichkeit, unterbrach sich nur, um einen Befehl zu geben, dem die Leute jetzt willig gehorchten. Er glühte, seine Brust arbeitete wie ein Hammerwerk.

„Lieber Franz, ich beschwöre Sie,“ flehte Heideschmied, „ruhen Sie aus, ein paar Minuten nur! Es kann Sie Ihr Leben kosten.“

„Fort damit, wenn ich’s in einem solchen Augenblick schonen soll“ – keuchte Franz und warf Heideschmied, der zu ihm mit der schüchternen Absicht herantrat, ihm den Spaten zu entwinden, einen Blick zu, der ihn zurückweichen machte. Keine Jünglingsseele mehr, eine Mannesseele, der eigene starke Wille eines Mannes sprach aus ihm.

Immer mehr Leute kamen herzugelaufen, aus den Stallungen, dem Dorfe. Heideschmied sandte einen Boten ins Schloß, um Herrn von Kosel zu melden, was sich begeben hatte. Nach einer Weile trug Kosel dem Balthasar auf, nähere Erkundigungen einzuholen, und als der gar zu lang’ wegblieb, ging er, sich selbst von dem Stand der Dinge zu überzeugen. Auf dem Schauplatz des Unfalls angelangt, sah er seinen Sohn auf einem Berg von Schutt an der abgebröckelten Mauer stehen. Barhäuptig, in zerfetzten Kleidern, mit zerschundenen blutenden Händen, das Gesicht feuerrot und schweißüberströmt, aber eine Verklärung des Entzückens in seinen Zügen, die unaussprechlich war.

„Vorsicht, nur langsam, langsam jetzt!“ sprach er mit heiserer, gequetschter Stimme. Mühsam rang sich jeder Laut, zwischen zwei schweren, pfeifenden Atemzügen aus seiner Kehle: „Karausek zu mir – bleibt drüben, Novak Swoboda! – alle übrigen fort! … Heben … Eins, zwei, drei!“ Er hatte den Spaten fallen lassen und einen der Balken angefaßt, der, vom Dache geworfen, sich hier mit noch drei anderen an die Mauer spreizte. Sie bildeten eine Art Käfig, in dem man einen formlosen Klumpen liegen sah, der Versuche machte, sich zu bewegen. Als die Balken, die ihn eingeengt und beschützt hatten, nun sacht entfernt wurden, steigerte sich die Bewegung zu einem gewaltigen Rütteln und Strecken. Die Retter halfen nach, klopften, putzten an ihm, hoben ihn auf und trugen ihn über die Böschung. Da glich er noch einer großen Streusandbüchse. Im Grase niedergelegt, nochmals gesäubert, kam die menschliche Gestalt glorreich zum Vorschein. Sprechen konnte er nicht, er hatte den Mund voll Staub, auch die Augen aufzumachen, war er nicht imstande. Als aber Franz ihn anrief: „Hanusch, mein guter Hanusch, lebst? bist bei dir, Hanusch?“ schob er sich zu seinem Herrn und Freunde hin und legte den Kopf auf seinen Fuß. Franz wollte sich zu ihm niederbeugen, wankte, taumelte, griff mit beiden Händen in die Luft und stürzte lautlos zur Erde nieder.

Sechs Tage lang kämpfte die junge kräftige Lebensflamme einen harten schweren Kampf gegen ihr frühes Erlöschen. Nutzlos, wie der Arzt sogleich erkannte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0479.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)