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hoch zu sein brauchen; einige Meter für die größeren und noch weniger für die kleineren könnten vielleicht genügen. Dabei ist die Arbeit ganz dieselbe, ob die Dämme 5 m oder 300 km weit abstehen. Die Breite der Kanäle ist folglich auf die natürlichste Weise erklärt und ihre Herstellung kein Kunststück. Denn abgesehen davon, daß die Schwerkraft auf Mars nur 0,376 der Schwerkraft auf der Erde beträgt, also mit demselben Kraftaufwand dort nahezu dreimal mehr geleistet werden kann, darf man nicht vergessen, daß die Kanäle nicht ein Produkt von Jahrtausenden, sondern von Jahrmillionen sind.“

Laut dieser Erklärung wären also die dunklen mehr oder weniger breiten Linien, die wir auf der Marsoberfläche wahrnehmen, nicht mit grünendem Pflanzenwachstum bedeckte Thäler, sondern wirkliche Wasserkanäle; als solche müßten sie aber stets vorhanden sein und nicht erst zur Zeit der Frühlingsschmelze auftreten. In der That glaubt sich Brenner auf Grund eingehender, in den letzten Jahren gemachter Beobachtungen zu der Behauptung berechtigt, daß diese Kanäle stets auf dem Mars vorhanden sind; nur sind sie uns nicht immer sichtbar; sie werden zeitweilig von Unklarheiten in der Marsatmosphäre, Wolken, Nebeln u. dergl., verdeckt.

Veränderungen, die an den „Seen“ der Marsoberfläche wahrgenommen worden sind, erklären sich nach Brenners Hypothese zwanglos durch Deichdurchbrüche oder niedrigen Wasserstand. Wer sich eingehender für diese Fragen interessiert, den verweisen wir auf die Abhandlung Brenners, die in der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift“ (Jahrg. 1898, Nr. 22) erschienen ist. Diese neueste Hypothese über das Wesen der Marskanäle ist nicht minder bestechend wie die Lowellsche. Ob aber die eine oder andere wirklich der Wahrheit entspricht, darüber vermag die strenge Wissenschaft heute noch nicht zu entscheiden. Die „Werke der Marsbewohner“ werden noch lange als ein schwer zu lösendes Rätsel die irdischen Geister beschäftigen. *     




Die arme Kleine.

Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.
(8. Fortsetzung.)


Elika fuhr nach Hause in ihrem eleganten Kutschierphaethon. Sie lenkte ein schönes, frommes Gespann. Neben ihr saß, eingewickelt in einen Mantel und in eine Wagendecke, die verkörperte, anbetende Liebe, Frau Heideschmied, und hinter ihr, auf dem Rücksitz, die Treue – Hanusch, der in den Dienst ihres Bruders Franz getreten und sich immer mehr zur Vertrauensperson qualifizierte. Wenn Hanusch dabei war, durfte Elika reiten und kutschieren welche Pferde sie wollte. – Wie bevorzugt schien sie vor den Mühseligen, die sie einholte, die ihr begegneten. Einigen, die freundlich grüßend auswichen, anderen, die mißgünstig und grollend zu ihr hinaufsahen und denen sie ausweichen mußte. Weiber, tiefgebeugt unter der Last schwerer, feuchter Gras- oder Reisigbündel, Bettler, Vagabunden, die alte Dorfbotin, die ihre Butte in Leinwandfetzen gehüllt hatte und sich mühsam schleppte …

O ja, ja! Elika, so rasch und sanft dahingetragen, so gut behütet, schien nicht nur, sie war bevorzugt vor ihnen allen und fühlte sich dennoch entsetzlich arm und verlassen. Was hatte sie diesem Bornholm gethan, daß er ihr allmählich den Mut, ihn anzusprechen, raubte? Nie war ihr Aehnliches begegnet, immer waren alle Menschen gut gegen sie gewesen … Die Schulkinder höchstens ausgenommen. Aber die, die zählten nicht. – Wenn sie sich feindlich gezeigt hatten, waren sie verleitet worden von Schlimmeren als sie. Auch ihnen galt das göttlich schöne, die Anklage in Verzeihung wandelnde Wort: „Sie wissen nicht, was sie thun“ … Und was man bedenken muß, und was ihr jetzt zum erstenmal so recht ergreifend aufs Herz fiel: die meisten von ihnen leiden, sind elend. – „Durch ihre eigene Schuld, es müßte nicht sein,“ hatte neulich der Herr Direktor gesagt, und Tante Renate hatte erwidert: „Ist es darum weniger ein Elend, nicht vielmehr das ärgste?“ Im Augenblick, in dem Elika das gehört hatte, war es an ihr vorbeigeflogen, ohne ihr einen Eindruck zu machen, und nun kam es wieder und haftete und beschäftigte sie. Zugleich besann sie sich auch, daß die Tanten, daß Apollonia das Gespräch immer abbrachen, wenn sie ins Zimmer trat während einer Konferenz, die mit dem Herrn Pfarrer und dem Doktor über Armenpflege abgehalten wurde. Man fand sie wohl zu jung, um ihr ein Urteil in solchen Dingen zuzutrauen, wollte sie schonen, ihr nicht weh thun durch den Einblick in das Leiden, von dem sie umgeben und bisher doch unberührt geblieben war … Bisher! Plötzlich begriff sie, was man ihr verbergen wollte, das Verständnis dafür kam wie durch ein Wunder. Thränen schossen ihr in die Augen. Sie wendete – was ein richtiger Kutscher doch nie thun darf – einen Moment den Blick von ihren Pferden und sprach zu Frau Heideschmied:

„Wenn man ein wundes Herz hat, das ist gut … Das ist wie wenn einem die Augen aufgehen würden, begreifen Sie? wie wenn ein Schleier sich verschieben würde … Das Herz hat eine dicke Haut gehabt und jetzt hat es eine feine! so feine!“

„Sie werden doch nicht ein wundes Herz haben, chère petite,“ erwiderte Frau Heideschmied, die sich an den einzigen klaren Satz in dieser Rede hielt, und war sehr beunruhigt, als Elika versicherte:

„Ich habe es.“

„Das vergeht, ich hoffe, daß es bald vergeht … Sie haben nur eine unangenehme Impression empfangen. Fort damit, denken Sie an etwas andres! Es giebt so viel Liebes, an das man denken kann!“ Par exemple mon mari bien-aimé, klammerte sie in Gedanken ein.

„Wenn jemand ungezogen ist – traurig für ihn. Ich möchte nicht Herr Bornholm sein … So deplorable Manieren hat nur ein mit sich selbst zerfallener Mensch; ein Mensch ohne Religion.“ Was hätte die vortreffliche Frau Heideschmied darum gegeben, diese Worte nicht ausgesprochen zu haben. Sie übten eine erschreckende Wirkung aus. Elika stammelte mit Entsetzen:

„Keine Religion?“ und sah ganz verstört drein. Empfindungen, viel zu lebhaft und mächtig für das junge zarte Geschöpf, spiegelten sich in ihren Zügen – ein so tiefer Schmerz, ein so furchtbares Grauen! Sie schwieg, aber was ging in ihr vor, wie schrecklich war ihr zu Mute! … Keine Religion! also das giebt es bei andern noch als bei den Kannibalen? … Keine Verbindung mit Gott, keinen Weg zu ihm? In Not, Krankheit, Gefahr keine Hoffnung auf eine Zuflucht … Ein hilfloses Menschenkind sein und keinen allmächtigen Vater haben, zu dem wir beten, zu dem wir schreien! Einen Vater, der hilft aus Erbarmen, oder Hilfe versagt aus Liebe, weil sein Kind des Leidens bedarf zur Stählung, zur Läuterung … Wenn ich nicht weiß, wozu ich leide, ist ja Leiden ertragen der bare, geschlagene Unsinn … Dann will ich nicht – dann geh’ ich … Die Betrachtungen der armen Kleinen endeten in dem heißen Stoßgebet: – Bewahre jeden Unglücklichen, der keine Religion hat, vor schweren Leiden, allgütiger Gott!




Das Programm, das Leopold und Franz für den Regentag entworfen hatten, wurde nicht eingehalten; die à la guerre-Partie blieb aus. Elika hatte einen langen Brief von Joseph bekommen und Bornholm brachte einen nicht viel kürzeren mit, der für ihn eingetroffen war. Joseph kündigte die Ankunft neuer Sendungen an. Er hatte sie dieses Mal nach Velice dirigiert. „Packt sie aus, Kinder,“ schrieb er an die Geschwister, „putzt meine Zimmer und, wenn es Euch freut, auch die Euren mit Kriegerschmuck aus Südaustralien auf. In zwei Jahren, in einem vielleicht, bin ich wieder da und bewundere Euer Werk. Nebenbei führe ich dem Papa, wenn er’s erlaubt, die Wirtschaft und möchte Euch nur alle wiederfinden gesund und glücklich, und die Jungen älter und die lieben guten Alten jünger geworden.“

Dann kündigte er an, daß längere Zeit vergehen werde, bevor wieder eine Nachricht von ihm in die Heimat käme. Wenn seine Briefe in Velice und Valahora gelesen würden, wo war er da? Er wußte es jetzt selbst noch nicht. Ein englischer Naturforscher unternahm in einiger Zeit, gut begleitet und ausgerüstet, eine Expedition in das Innere des Landes und hatte Joseph aufgefordert, sich ihm anzuschließen. Er ließ sich das nicht zweimal sagen.

Wieder eine große und gefahrvolle Reise! Die Damen seufzten sorgenvoll, den beiden jungen Herren brannten die Köpfe. Er war doch ein glücklicher Mensch, ihr Joseph. Sie gönnten es

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0472.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)