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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Alix führte gehorsam die Tasse zum Mund. „Wie geht es Werner?“

„Er hat in der Nacht wieder etwas mehr gefiebert; jetzt hat es nachgelassen, und er schläft ganz fest.“

In der nächsten Minute fuhren sie alle vier empor – draußen hatte es heftig geläutet.

Gleich darauf brachte Betty einen an Alix adressierten Brief ins Zimmer. Diese reichte ihn Frau Maria.

„Möchtest du ihn vorlesen?“ bat sie mit bedeckter Stimme. „Was in ihm enthalten ist, kann kein Geheimnis sein und bleiben.“ Und als die Professorin zögerte, fügte sie hinzu: „Es wäre mir lieber, von dir alles zu hören, als es selbst lesen zu müssen!“

Daraufhin erbrach Maria das Schreiben:
„Josephsthal, den 18. Februar 1893. 
 Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!
Nach Absendung meines Telegramms an Sie und nach einer nochmaligen Rücksprache mit den drei Aerzten, in deren Behandlung sich Ihr Herr Vater befindet, schreibe ich Ihnen diese Zeilen.

Sie müssen Ihr Herz mit Mut und Ergebung wappnen, verehrtes Fräulein; nach dem, was mir die Aerzte in Uebereinstimmung sagen, ist der Zustand Ihres Vaters äußerst bedenklich. Hoffen wir, daß, wenn Sie morgen abend hier eintreffen, eine günstigere Auffassung möglich sein wird.

Wie erschüttert ich mich fühle, da ich gezwungen bin, Ihnen, dem einzigen Kinde des Schwerkranken, diese traurige Mitteilung zu machen, wie unfaßbar es mir scheint, diesen noch gestern, noch vor einigen Stunden so lebensvollen, kräftigen Mann in seinem jetzigen Zustand sehen zu müssen, vermag ich mit Worten nicht zu schildern. Ich habe den Vorzug genossen, Ihrem Herrn Vater nahe zu stehen, nicht nur, wie Sie wissen, als sein Rechtsbeistand, dem es vergönnt war, einen Einblick in das Gebiet seiner kolossalen Thätigkeit zu gewinnen, seine Vielseitigkeit anzustaunen, seinen weitreichenden Ueberblick zu schätzen, sondern auch als Freund. – – – So liegt mir denn die traurige Aufgabe ob, Ihnen, soweit dies möglich ist, von den das schmerzliche Ereignis begleitenden Umständen Mitteilung zu machen.

Ich sage mit Absicht: soweit dies möglich ist; denn fürs erste bleibt die ganze Begebenheit noch in Dunkel gehüllt. Hoffen wir, daß dasselbe sich im Lauf der Zeit lichten wird.

Daß Ihr Herr Vater bei dem ausgedehnten Betrieb seiner Werke, einem Betrieb, der ihn zum Gebieter von Hunderten machte, nicht ohne Feinde und Widersacher geblieben ist, das, mein verehrtes, gnädiges Fräulein, werden Sie sich ohne Zweifel denken können. Geradezu unmöglich ist es, in einer solchen Stellung es allen recht zu machen, und bei den heutigen unruhigen Zeiten, da der Geist des Aufruhrs allenthalben geflissentlich geschürt wird, ist an ein gütliches Auskommen und einträchtiges Zusammengehen vollends nicht zu denken. Einer der obersten Betriebsleiter Ihres Herrn Vaters, den er selbst des öfteren im Gespräch mit mir seine ‚rechte Hand‘ genannt hat, ein ungewöhnlich intelligenter und tüchtiger Mensch, will beobachtet haben, daß sein Prinzipal in letzter Zeit verschiedentlich Briefe mit derselben Handschrift erhalten hat, die wohl Anklagen oder Drohungen, jedenfalls Unangenehmes enthalten haben mögen. Ingenieur Harnack, dies ist der Name des Betriebsleiters, hat zwar keine Einsicht in die betreffenden Briefe gehabt, aber er hat wiederholt wahrgenommen, wie Baron von Hofmann, nach flüchtiger Durchsicht derselben, sie unter Stirnrunzeln mit rascher Hand in winzige Stückchen gerissen und ins Kaminfeuer geschleudert hat. Ingenieur Harnack meint, es können ungefähr fünf bis sechs solcher Briefe gekommen sein, und zwar im Zeitraum von etwa vierzehn Tagen … daher konnte ihm die Sache auffallen und im Gedächtnis bleiben; er würde auch die Handschrift wiedererkennen, nimmt aber wohl richtig an, daß dieselbe geschickt verstellt gewesen ist. Ihr Herr Vater pflegte sehr häufig, im Sommer wie im Winter, in einem leichten, kleinen Einspännerwagen, vor den ein vorzüglicher Schnelltraber gespannt war, über Land zu fahren. Er nahm bei solchen Fahrten weder Kutscher noch Diener mit, der Wagen war ein sogenannter Selbstkutschierer, und Baron von Hofmann verstand sich ausgezeichnet auf Pferde. Herr Harnack hatte sich zuweilen, so wenig sein Prinzipal Einmischungen liebte oder auch nur duldete, erlaubt, ihn vor diesen weiten, einsamen Streifzügen zu warnen; die Antwort hatte dahin gelautet, daß diese Fahrten seit langen Jahren stets stattgefunden hätten, auch weiterhin stattfinden würden und daß ein gezogener sechsläufiger Revolver der treueste und zuverlässigste Begleiter bei ihnen sei.

Auch am heutigen Tage hat morgens bald nach zehn Uhr der leichte Schlitten, der in dieser Jahreszeit den Wagen ersetzt, vor der Thür gestanden, und Herr von Hofmann, der bis zum letzten Augenblick noch mit seinen Oberbeamten geschäftliche Fragen durchzusprechen hatte, ist in bester Gesundheit und unveränderter geistiger Elastizität davongefahren. Ein Ziel seines Weges war die große, erst kürzlich neueingerichtete Schneidemühle, die, den Fluß entlang gerechnet, etwa eine Stunde weit vom Wohnhause gelegen ist. Ein weiteres Ziel der Fahrt ist dem Beamtenpersonal Ihres Vaters nicht bekannt gewesen; es hat sich indessen herausgestellt, daß er ein solches doch noch gehabt haben muß, denn in der Schneidemühle, wo man Nachfrage gehalten hat, ist ausgesagt worden, Herr von Hofmann sei um halb elf Uhr daselbst angekommen, habe vom Schlitten herunter eine kurze Besprechung mit dem obersten Betriebsleiter des Etablissements gehabt, einige Anordnungen getroffen und sei nach etwa zehn Minuten weitergefahren, aber nicht in der Richtung nach Hause, sondern der östlichen Krümmung des Stromes folgend.

Als Ihr Herr Vater um halb ein Uhr noch nicht zurückgekehrt war, hat man einigen Anlaß zur Besorgnis gefunden, da er zu mehreren Personen von etwa einer Stunde Fortbleibens gesprochen hatte und als die Pünktlichkeit selbst bekannt war. Man schickte zu mir, der ich gerade bei dem Pfarrer in Josephsthal anwesend war: ob ich zufällig Näheres über Herrn von Hofmanns Verbleib wüßte. Dies war nicht der Fall, ich schlug indessen vor, man solle zunächst Erkundigungen in der Schneidemühle einziehen. Das war bereits geschehen und hatte das soeben erwähnte Resultat gehabt. Ich beratschlagte mit den Herren vom Beamtenpersonal, was weiter zu thun sei, als – es mochte halb Zwei geworden sein – ein Bauernschlitten und dahinter zwei andere Gefährte langsam die Auffahrt heranfuhren. Zwei von den kleineren Besitzern der Umgegend, deren einer den Arzt aus der nächsten Stadt geholt hatte, waren am Waldesrand, etwa eine Viertelstunde von jener zuvor erwähnten Krümmung des Flußes, eines umgestürzten Schlittens gewahr geworden, aus welchem ein menschlicher Körper, vorn übergeneigt, den Kopf zu unterst, heraushing. Voll Entsetzen eilten die Leute zu Hilfe, der Arzt konstatierte noch Leben in dem Körper und entdecke alsbald zwei schwere Kopfwunden, die dem Bewußtlosen an der linken Schläfe und oberhalb derselben beigebracht waren. Der sechsläufige Revolver, den Herr von Hofmann auch diesmal mit sich führte, wurde unentladen in einer Seitentasche des Pelzes vorgefunden; offenbar war seinem Besitzer gar keine Zeit mehr zur Selbstverteidigung geblieben. Ein Raubmord scheint ausgeschlossen, da sowohl die überaus kostbare Uhr nebst Kette, sowie die wertvollen Ringe des Ueberfallenen sich vorfanden, ebenso eine kleine Geldtasche mit etwa vier bis fünf Goldstücken und etwas Silber. Ob Herr von Hofmann vielleicht doch eine größere Summe bei sich gehabt, ließ sich zur Zeit noch nicht feststellen. Der Arzt legte den Notverband an, so gut es eben gehen wollte, und leitete den Transport des Schwerverwundeten. Der Josephsthaler Arzt war in wenigen Minuten gleichfalls zur Stelle, auch telegraphierte ich sofort an Professor Lange in Greifswald und schicke den Wagen für ihn zur Station. Er war in guten drei Stunden bei uns. Alle drei Aerzte geben einstimmig ihr Urteil dahin ab: der Zustand ist im höchsten Grade bedenklich!

Während der Besprechung der Doktoren, die eine geraume Zeit erforderte, habe ich ein möglichst genaues Verhör mit den Beamten und der persönlichen dienenden Umgebung Herrn von Hofmanns angestellt und, in Gegenwart eines sofort telegraphisch herbeigerufenen Amtsrichters und Aktuars, zu Protokoll nehmen lassen. Die Aussagen stimmen sämtlich überein, ich habe bis jetzt noch keinen irgendwie wertvollen Fingerzeig, der mich auf eine Spur leiten könnte, gefunden, doch war freilich die Zeit hierfür außerordentlich kurz bemessen. Die Leute sind alle, ohne Ausnahme, aufs äußerste bestürzt und betroffen, niemand von ihnen scheint eine Ahnung von dem Thäter zu haben; es herrscht eine unglaubliche Aufregung und Verwirrung unter dem Personal, dem so plötzlich der Herr genommen worden ist!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0459.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)