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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Sie haben gründlich untersucht, der eine, wie der andere. Dann hat der große Mann ein paar lateinische Worte zu unserm Doktor gesagt – ach, Ernst, daß ich die paar lateinischen Worte nicht verstand! An denen hing für mich nun die Entscheidung, und ich mußte warten – eine – zwei Minuten warten, bis sie mir’s übersetzten. Gott, wie unwissend ist solch’ eine Frau!“

„Du, Maria – und unwissend!“

„Doch, doch! Sie haben es mir dann endlich auf gut Deutsch gesagt: operieren wäre ganz unnütz, es sei viel, viel besser, keine Gefahr mehr – das bißchen Belag in der Rachenhöhle nicht mehr der Rede wert – das Fieber bedeutend zurückgegangen. Nur noch fleißig gurgeln und spülen mit einer neuen Lösung, die der Professor aufschrieb – und wie der zu Kindern reden kann, Ernst! Er hat Werner gesagt, er hätt’ auch einen Jungen von zehn Jahren, aber nicht so groß und stark wie unserer, und unserer hat gesagt, der sollte ihn nur besuchen, und hat dann erzählt, daß er in Quinta Fünfter wäre und im nächsten Semester versetzt würde – wie zwei alte Freunde waren sie, und unser Doktor stand dabei und lachte über sein ganzes gutes Gesicht!“

„Und jetzt? Wie steht es jetzt?“

„Werner war ein bißchen müde nach der Untersuchung; der Professor meinte, er würde bald schlafen. Denk dir, er nahm den schweren Jungen auf den Arm und schleppte ihn selbst ins Bett zurück. So ein berühmter Mann!“

„Berühmte Männer sind auch Väter und Menschen!“

„Ja, gottlob, dies war ein solcher. Er hat noch dies und das zu mir gesagt, aber es betraf nicht den Jungen, und so weiß ich nicht mehr, was es gewesen ist. Mit meinen Gedanken war ich schon immer bei dir und deiner Angst. Wie sie dann fort waren, hab’ ich mich neben Werners Bett gesetzt, und er hat gleich gebeten: ‚Geh’ doch zu Papa und sag’ ihm, daß es mir gut geht und daß sie mich nicht schneiden werden!‘“

„Mein guter, guter Junge! Das hat er gesagt?“

„Ja, aber ihm fielen beinahe schon die Augen zu vor Mattigkeit. Da blieb ich doch noch, bis er einschlief, und jetzt ist Betty bei ihm. So, jetzt weißt du alles! Ach, ich bin Gott so dankbar!“

Sie faltete ihre Hände über denen ihres Mannes zusammen und neigte das Haupt. Er küßte ihr blondes Haar, und nun war es eine kleine Weile still im Zimmer. Draußen ging in leisem Klagen der Tauwind. Der Februar hatte scharfe Kälte gebracht, die war jetzt umgeschlagen, aber der Winter hielt darum doch sein weißes Scepter in Händen. Es schneite in großen Flocken, und zuweilen klang Schellenläuten in das stille Studierzimmer hinein.

Frau Maria richtete sich auf. „Daß ich’s ja nicht vergesse! Ich hab’ es Alix in die Hand gelobt, ihr heute abend noch Botschaft zu schicken. Bertha muß hinüberlaufen. Unser Elschen, so klein es noch ist mit seinen sechs Jahren, hat auch geweint und gesagt, es will immer wissen, wie es Werner geht – ich glaube, das arme kleine Ding wird sich sehr bangen, trotzdem Alix bei ihm ist!“

„Und Alix selbst ist ungern fortgegangen!“

„Ich hab’ sogar meine ganze Autorität aufbieten müssen, damit sie überhaupt ging. Aber ich bitte dich, die Verantwortung kann ich doch nicht auf mich nehmen, sie hier zu behalten und der Ansteckungsgefahr auszusetzen! Die Menschen sehen ja zumeist nur die Pensionärin in ihr, die ein so glänzendes Jahrgeld zahlt, um die mich alle Kollegenfrauen beneiden …. wie fest sie mir aber als mein Pflegekind ans Herz gewachsen ist, das weiß keiner!“

„Außer mir, Maria!“

„Außer dir, versteht sich! Ich kann mir meinen Hausstand ohne Alix gar nicht mehr denken!“

„Versuch’ es lieber, es dennoch zu thun! Ein junges, schönes und schwer reiches Mädchen wie Alix wird doch immer über kurz oder lang heiraten – oder es erscheint eines schönen Tages ihr Vater und fordert sie zurück.“

„Ach, der wird sich wohl hüten, zu erscheinen! Was soll er denn mit ihr? Der seinen Kopf so voll von Projekten hat! Der kaum weiß, daß er eine einzige Tochter hat, und dem diese Thatsache, wenn er sich auf sie besinnt, höchstens unbequem ist! Und heiraten! Hat sie’s bis jetzt nicht gethan, ist auch weiter die Gefahr nicht so groß – – Herrgott, wie kann man so ungestüm klingeln!“

Beide Gatten lauschten stumm hinaus. Das heftige Läuten wiederholte sich nicht, wohl aber pochte es diskret an die Thür.

„Das ist Berthas Klopfen. Nun, Bertha?“

Das Mädchen schlich, wie zuvor, auf den Fußspitzen herein und reichte ihrer Herrschaft ein Telegramm.

„Der Depeschenbote war’s. Für unser gnädiges Fräulein. Soll ich es ihr hintragen?“

„Aus Josephsthal.“ Der Professor drehte das zusammengelegte Blättchen unschlüssig hin und her.

„Am Ende meldet ihr Vater seine Ankunft!“

„Jetzt?“

„Allerdings ist er um diese Zeit noch nie gekommen. Vielleicht …. gehen Sie einstweilen, Bertha – – was möchten Sie noch?“

„Bloß – bloß möcht’ ich wissen“ – die frische, hübsche Frankfurterin zerdrückte vor Verlegenheit erbarmungslos die steifgebügelte schneeweiße Schürze – „bloß, wie’s unserm Wernerchen geht!“

„Besser, viel besser, gottlob, Bertha!“

„Und sie werden ihm nicht innen im Hals schneiden?“

„Nein, das ist nicht mehr nötig!“

„Ach, ich dank denn auch viele Male!“ Bertha sagte dies so strahlenden Angesichts, als hätte sie das schönste Geschenk erhalten. „Und wenn ich zum gnädigen Fräulein gehen soll …. ich kann gleich laufen!“

„Ist nicht nötig!“ sagte eine Stimme hinter ihr. „Das gnädige Fräulein ist selbst zur Stelle!“

„Alix, Alix!“ rief Frau Laurentius erschrocken und streckte die Hand vor, als wollte sie die Eintretende von sich abwehren.

„Nun, was denn, mein Gott? Mir hat’s keine Ruhe gelassen, und Bertha blieb mir zu lange aus – ich mußte selbst kommen, nach dem Jungen fragen. Wegen Else braucht ihr nicht bange zu sein – ich bin zu Fuß gekommen, direkt durchs ganze Schneegestöber gelaufen und ebenso geh’ ich zurück. Kann mich auch noch mit irgend ’nem Zeug desinfizieren, wenn euch das beruhigt!“

„Nicht Elschens wegen allein! Du selbst, Kind –“

„Ich?“ Das Mädchen lachte trotzig auf. „Als ob ich’s nicht bewiesen hätte, daß ich gefeit bin gegen jede Ansteckung. Denk doch daran, wie Else Scharlach hatte …. Sag’ mir aber endlich Bescheid, Maria – daß es viel besser geht, seh’ ich euch beiden sofort an den Gesichtern an, also – was hat der große Mann der Wissenschaft gesagt?“

„Geduld, Geduld, Kind!“ sagte der Professor. „Hier ist eine Depesche für Sie – wollen Sie nicht zuerst –“

„Ach, bewahre!“ machte sie gleichgültig. „Das wissen Sie doch, wie oft Papa mir depeschiert, es spart ihm die Zeit fürs Briefeschreiben. Also, nun sag’ mir alles, Maria, ja?“

Das that die Professorin. Und während sie sprach und in ihrer anschaulichen Manier lebhaft schilderte, kam ein warmes Licht in die dunkelblauen Augen ihrer Zuhörerin, wunderschöne, länglich geschnittene Augen, die unter dunklen Brauen lagen.

„Nun, gottlob! Ich war immer mit meinen Gedanken hier! Weißt du, mit dem Ausquartieren ist das eine schauerliche Sache – man steht noch zehnmal mehr Angst aus, wenn man fern sein muß, als wenn man dabei sein kann!“

„Du läßt dich ja gar nicht fernhalten!“

„Nein! Thu’ ich auch nicht! Ich bin überhaupt bloß Elses wegen fortgegangen. Bekomm’ ich keinen Kuß, Maria?“

„Alix, wirklich, du mußt verständig sein! Ich war doch eben erst bei Werner, habe mich freilich vorgesehen, aber es könnte –“

„Schön, schön! ‚Zur Liebe kann ich dich nicht zwingen!‘ Denken wir an Else! Sie ist übrigens munter, die kleine Maus; ich hab’ ihr’s natürlich nicht gesagt, daß ich herging, sonst hätte sie geweint und mitgewollt. Sie redet immerzu von euch und von Werner und will für ihn sehr viel Chokolade und bunte Bildchen aufheben – wenn sie es durchsetzt nota bene! Die Leute sind alle sehr gut zu ihr; denen ist solch’ kleines Mädchen wie ein neues Spielzeug!“

„Verwöhnt mir nur meine Tochter nicht!“ mahnte der Professor. „Aber nun – Ihr Telegramm – wollen Sie es jetzt nicht öffnen, Alix?“

Er reichte es ihr hin, sie riß die Marke los, schlug das Blatt auseinander und sah lächelnd hinein. Das Lächeln wich alsbald von ihrem Gesicht, wie sie las – es war ein längeres Telegramm.

Der Professor sah das und wollte fragen; seine Frau machte ihm ein Zeichen, still zu bleiben. Mit Sorge beobachtete sie, wie sich des Mädchens Brauen während des Lesens aneinanderrückten,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0454.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)