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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Was willst du?“ fragt Christel endlich mit einer Stimme, die vor Angst heiser ist, „die Kinder? Nicht wahr, die Kinder? Sag’s nur, ich bitte dich!“

Er schüttelt traurig den Kopf, aber er rührt sich nicht vom Fleck. „Ich wollte dir danken, ich wollte dich bitten, mir zu vergeben, Christel, wenn du kannst.“ Er hat es leise und stockend gesprochen, und wie sie eine Handbewegung macht, die ihn schweigen heißt, da sagt er, sich noch schwerer auf den Tisch stützend: „Heim wollt’ ich, dich wollt’ ich wieder sehen, Christel, nur noch einmal, Christel!“ – Er hat einen Schritt vorwärts gethan, nun schwankt er, greift hinter sich nach einem Halt und bricht in die Kniee. Die Aufregung, die Schwäche nach überstandener schwerer Krankheit übermannen ihn, er ist ohnmächtig geworden.

Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf das Sofa gebettet, ein weiches Kissen unter dem Haupt, und auf der Stirn fühlt er eine linde Hand, die ihm die Schläfen mit Kölnischem Wasser reibt. Ein liebes vertrautes Antlitz ist dicht über dem seinen und schaut ihn an, erschreckt und besorgt, mit treuen blauen Augen.

„Anto,“ klingt’s bebend in sein Ohr und sie kniet neben ihm, „Anto, ich bin’s, Anto, lieber Anto!“

„Christel!“ flüstert er, weiter vermag er nichts.

„Gottlob, du kennst mich! Komm’, trinke einen Schluck Wein!“

Gehorsam, wie ein Kind, trinkt er, dann verwirren sich seine Gedanken wieder, er schließt die Augen und sucht tastend nach Christels Hand. Ein glückliches Lächeln um den Mund, schläft er ein, den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Sie bleibt an seinem Lager knieen, den Kopf auf seine Rechte gelegt, die die ihre fest umspannt hält, als wolle er sie nimmer wieder lassen. So ruhig ist’s im Zimmer, so heimelig. Gleichmäßig tickt die alte Schwarzwälder, der Kanarienvogel zwischert ganz leise im Schlaf, und über ihnen klingen dumpf die kleinen Schritte der Kinder, seiner Kinder.

„Ist das ein Traum?“ fragt sich Christel, „lieber Herrgott, ist’s ein Traum? Hat er wirklich gesagt: ‚Dich wollt’ ich! – heim wollt’ ich – dich bitten, mir zu vergeben!‘ – Soll es keine Oede, keine Einsamkeit mehr geben für mich, ist das Glück wiedergekommen, das alte, nie vergessene schlichte Glück meiner Jugend aus dem Pächterhause in Wartau? – Ach, schöner, noch viel schöner!“

Sie hebt den Kopf. „Hast du mich lieb, hast du wirklich Heimweh nach mir gehabt?“ fragt sie leise und betrachtet sein schmal gewordenes Gesicht. „Aber nicht heißer ist deine Sehnsucht gewesen als die meine nach dir, Anto, nein, gewiß nicht! Und nun lasse ich dich nicht wieder fort, nie wieder, nie! Gesund sollst du mir wieder werden in Arbeit, Einfachheit und Ordnung, und in der Sorge um deine Kinder – unsere Kinder.“

Das alles spricht sie ganz leise, als könne er sie verstehen, und ebenso leise, um ihn nicht zu wecken, entwindet sie ihm ihre Hand, schleicht sich nach einem letzten langen Blick auf ihn aus der Stube und schafft eine halbe Stunde in der Küche umher. Die Hände zittern ihr ein wenig, das Gesicht ist rosig erglüht, sie sieht so merkwürdig jung aus, die Frau Christel.

Ein Weilchen später kommt sie nach oben, wo Marie bei den Kindern sitzt. „Nimm eine reine Schürze aus der Kommode, Marie,“ befiehlt sie, „und ihr kommt her und laßt euch waschen, ganz sauber und fein müßt ihr euch machen,“ sagt sie, „und sehr artig sein.“

„Frau, ich muß wohl in die Küche, es wird Zeit zum Abendessen,“ drängt Marie.

„Ja, ja! Aber sei leise – drunten im Wohnzimmer liegt ein Herr, der ist krank und schläft jetzt ein wenig, geh’ nicht etwa hinein! Und helfen kann ich dir schon nicht, Marie, mußt den Hasenbraten, der in der Sahne liegt, und ein wenig Weinsuppe kochen, ich habe dir schon alles Nötige hingestellt.“

„Herr Jeses, Frau – das war ein Besuch? Und das sagen Sie mir jetzt erst?“ jammert das Mädchen, und im nächsten Augenblick ist sie schon auf dem Wege nach der Küche.

„Was fällt der Frau nur heute ein?“

Und Christel sitzt da oben, die Augen immer mit glückseligem Ausdruck auf die Uhr gerichtet, in der Ofenecke. Sie hat die Kinder gewaschen und frisch gekleidet. Um Sieben will sie ihn wecken, bis dahin mag er schlafen, aber dann soll er seine Kinder sehen!

Wie die heisere Stimme der Uhr anhebt zu schlagen, nimmt sie die kleinen Mädchen auf den Arm und sagt zu dem Jungen: „Komm’, Lothar.“ Dann geht sie vorsichtig die schwach erhellte Treppe hinunter.

„Tante,“ fragt der Bub’, „du hast so frohe Augen, ist der Weihnachtsmann gekommen?“

Da nickt sie. „Er hat dir gebracht, was du so sehr gewünscht hast, mein Herzblatt.“

„Wieder einen Pony, Tante?“

„Was viel Besseres, das Beste von allem.“

Und leise öffnet sie die Thür und kommt über die Schwelle mit den Kindern.

„Lauf hinüber, Lothar, und wecke den Papa,“ flüstert sie.

Das Kind steht einen Augenblick und sieht verständnislos von der Tante zu dem Manne auf dem Sofa, dann jauchzt es hellauf und läuft hinüber und klettert an dem Schläfer empor. „Papa! Mein lieber, lieber Papa!“

Als Anton die Augen aufschlägt, da sieht er über den dunklen Lockenkopf seines Jungen hinweg Christel stehen, die blonden Kinder auf beiden Armen, und ein halb glückliches, halb verlegenes Lächeln zuckt um ihren Mund, ihre Augen aber sehen ernst und still in die seinen.

„Papa, bleibst du hier?“ fragt Lothar, „lieber Papa, du darfst nicht wieder weggehen.“

„Christel?“ fragt Anton bange.

Da sagt sie ruhig und freundlich wie in alter Zeit: „Noch einmal fährt Papa fort, Lothar, nachher, um neun Uhr, zum Onkel Doktor nach Dresden, aber wenn er dann in kurzem wiederkommt, dann bleibt er immer bei Tata daheim.“

„Daheim!“ wiederholt er, „bei euch, Christel!“

Und nach einer Stunde fährt Karl vor mit dem Wagen, Christel begleitet Anton bis zur Station. Schweigend sitzen sie nebeneinander, er hat den Kopf an ihre Schulter gelehnt und ihre Hände haben sich fest umschlossen.

„Grüße deinen Freund und vor allem die Frau Doktorin,“ sagt sie endlich, „sie sollen dich bald gesund pflegen.“

„Sie werden sich wundern, Christel!“

„Worüber?“

„Daß du mir verziehen hast, du bestes Herz; daß du wieder meine Frau werden willst, mein getreues Weib!“

„Sie werden sich gar nicht wundern, Anto, sie wissen ja, daß ich nie aufgehört habe, dich zu lieben, und“ – Christel stockt ein wenig – „die Liebe höret nimmer auf,“ vollendet sie in ihrer Seele, aber der Mund schweigt. Und Anton schweigt auch. Er ist gedrückt, überwältigt von der Güte und Liebe, von der stillen Treue Christels, die nicht einen einzigen Vorwurf für ihn hatte, und Christel, die ihn immer so gut verstand, die fühlt das mit ihm. Und mit einem Anflug ihres einstigen schlichten Humors sagt sie: „Höre du – auf dem Rödershof fehlt halt der Mann, sagen die Leute; wie sehr sie recht haben, das kannst du an der Wirtschaft sehen; wir müssen tüchtig arbeiten miteinander, mehr noch als im Anfang, du, denn wir haben Erben, drei Erben, Anto, und vorläufig sieht’s windig aus mit der Hinterlassenschaft!“

„Wenn sie deinen Sinn erben könnten, Christel, deine Liebe, deine Treue, was Besseres brauchen sie nicht,“ antwortet er und drückt ihr dankbar die Hand.

„O, Anto!“ wehrt sie beschämt ab, „du wirst doch nicht jetzt noch anfangen wollen, mir Schmeicheleien zu sagen? – Gottlob, da sind wir, reise glücklich, hoffentlich kannst du bald heimkehren!“

„Heimkehren!“ wiederholt er und es ist ihm zu Mute, als verstehe er heute zum erstenmal, was das Wort „Heim“ bedeutet.




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