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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Rödershof – wie traulich das klingt! Er kennt ihre Stube, er sieht die alten lieben Möbel und er sieht die Kinder um sie. So traut wie eine Heimat erscheint ihm das Unbekannte. Gleich einem fährt er dahin, der jahrelang verbannt war aus dem Frieden des Vaterhauses, der aus fernem öden Lande zu ihm flüchtet, um immer dort auszuruhen von Sturm und Not. –

Und wenn er die Thür verschlossen findet? Wenn ihm die Rast dort verweigert wird? Wenn er wieder davonwandern muß – im Dunklen, Kalten mit seinen drei Mutterlosen? Ist es nicht etwas Ungeheures, was er da verlangt in seiner heißen Sehnsucht, seiner schreienden Herzensnot? Sie kann ihm ja gar nicht verzeihen, sie kann’s nicht! sagt er sich. Und dennoch treibt’s ihn hinaus von der kleinen Station auf die Chaussee nach Bärenwalde, in den sinkenden Abend hinein mit unheimlicher Macht.

Wunderbar, er fühlt keine Müdigkeit mehr, es ist ihm, als habe er Flügel! In der Ferne vor ihm liegt ein letzter blaßgoldener Schein wie die Verheißung von lauter Glück, über ihm funkeln die Sterne bereits, die Sterne des Christmonats.

Am Eingang des Dorfes fragt er einen Jungen, wo der Rödershof sei. Und für den gespendeten Nickel läuft der Kleine bereitwillig vor Anton her und bleibt am Sandsteinpfeiler stehen. „Den Weg da müssen Sie hinaufgehen, und an der Hausthür ist ein Klopfer.“

Und Anton geht den Weg hinauf, sehr langsam. Sein Mut ist jählings von ihm gewichen, ebenso seine physische Kraft, die er überschätzt hat in seinem sehnsüchtigen Verlangen, und er starrt auf den Schein des Lichtes, das durch die Ausschnitte der Fensterläden dringt, als seien diese hellen runden Flecken abweisende, warnende Augen. Dann lehnt er schwer am Stamm der Linde und trocknet den Schweiß von seiner Stirn.

Schlimmer als ein Bettler erscheint er sich! – 00000000000000000000

Christel sitzt in der Wohnstube mit den Kindern. Sie nimmt die Kleinen jetzt immer mit hinunter, da kann sie von Küche und Milchkammer aus schneller bei ihnen sein. Mit unendlicher Mühe und Anspannung aller Kräfte hat sie es durchgesetzt, ihre Wirtschaft in regelrechte Ordnung zu bringen. Nach Neujahr soll ein Inspektor antreten; sie ist mit einem älteren Manne handelseinig geworden, der gern noch etwas verdienen möchte zu seiner Pension als ehemaliger gräflicher Beamter, und glaubt, mit der Arbeit auf dem Rödershof noch gut fertig werden zu können. Christel hat zwei leere Zimmer oben für ihn bestimmt, denn der alte Mann bringt seine Tochter mit, derentwegen er hauptsächlich wieder auf dem Lande leben möchte; sie sei ein wenig kränklich, sagt er.

Wendlandt ist des öftern im Rödershof gewesen und hat seinem Patenkind auf die Finger gesehen, und einmal hat er Christels Hand genommen und recht herzlich gesprochen: „Schwägerin, ich red’ aus andern Beweggründen wie Louischen, aber ich rate dasselbe – thun Sie die Last von sich mit den drei Kindern und nehmen Sie selbst wieder die Zügel der Wirtschaft in die Hand; es haut nicht aus auf solch kleinem Gut mit Inspektorgeschichten – glauben Sie’s mir, es frißt zu viel Zins.“

Aber Christel hat den Kopf des Jungen an sich gedrückt und hat, außer sich, gerufen: „Wenn ich die Kinder wieder missen soll, dann ist’s mir ganz egal, was aus allem wird, dann mögt ihr mich am liebsten gleich begraben! Könnt ihr die Zeit dazu nicht abwarten? Ueber kurz oder lang holt man sie mir ja doch weg, und dann seht zu, was aus mir werden wird!“

„Aber, Schwägerin, gerade diese Kinder –!“

Christel hat ihm nicht geantwortet, ihn nur angestaunt mit großen Augen. Gerade diese Kinder! Begreift denn der Mann nicht, daß ihr keine Geschöpfe auf Gottes Erde näher stehen könnten als eben diese Kinder?

Und Wendlandt ist gegangen und hat zu sich selbst gesagt: „Du hättest doch eigentlich wissen müssen, daß sie den Vater nicht vergessen kann bis auf den heutigen Tag, und daß all diese jahrelang zurückgedrängte Liebe auf seine Kinder ausströmt! Du hättest es wissen müssen, sie hat dich ja heimgeschickt mit einem Korb. Wenn’s ihr nur um Kinder zu thun war, hätte sie ja die deinen lieben können? Aber siech und elend wird sie sich machen in ihrer übertriebenen Gewissenhaftigkeit; jede Nacht um zwölf Uhr oder später zu Bett, und um drei Uhr morgens auf – wo will das hin?“

Ja, diese große blühende Frau war bleich und schmal geworden unter der Arbeitslast, unter der fortwährenden Angst, man könne ihr die Kinder nehmen. Sie schrickt zusammen, hört sie einen Fremden kommen, sie zittert, wenn sie den Postboten sieht, und Heine antwortet so beharrlich nicht auf ihre Fragen.

Bisweilen, wenn sie sich matt fühlt unter all der Last, dann sagt sie sich zur Aufmunterung: „Wenn ich als Witwe zurückgeblieben wäre mit den Kindern, da hätt’ ich’s ja auch nicht leichter, und wie viele müssen durch die Welt mit einem noch größeren Häufchen Waisen; und gleich darauf kommt das Bittere – aber dann wären es meine eignen und ich brauchte nicht zu zittern vor einer Trennung.“

Louischen hat ihr einmal spöttisch zugerufen, die Sorge sei überflüssig und der Herr Vater jedenfalls froh, sie los zu sein, die Kinder. Sie glaube bestimmt, daß er in Amerika ein freies Leben führe. Christel hat nichts erwidert, nur gedacht, das wäre der erste Schiffbrüchige noch nicht, der sich dorthin gerettet hat. Aber die Hoffnung ist doch gleich daneben aufgesproßt: er kann die Kinder nicht vergessen, er muß ja nach ihnen sehen!

Und heute früh ist Karl Weiser gegangen, denn man schreibt bereits den fünfzehnten Dezember, und seine Schwiegereltern erwarten ihn drunten in Dresden, in der Papierhandlung. Er hat sich so sehr gefreut auf die Arbeit neben seiner kleinen Braut in dem hübschen Laden, zwischen all den sauberen, zierlichen Sächelchen; und da wird ja der Laden auch mal leer sein auf einen Augenblick, der zu einem Kusse reicht.

Christel hat ihm sehr gedankt, ihm alles Gute gewünscht, und der treuherzige Bursche hat gemeint, ihr eine rechte Wohlthat zu erweisen, indem er ihr rät, doch wieder einen Mann auf den Rödershof zu bringen, so ein schönes Gütchen; die Frau könn’s ja nicht zwingen bei den Kindern. Aber Christel hat den Kopf geschüttelt und gesagt: „Sie denken, weil Sie das Heiraten im Kopfe haben, Karl, ist’s das einzige Heil der Welt! Es giebt gar herbe Enttäuschungen, lieber Karl.“

Aber der hat lachend und mit der ganzen Zuversicht der Jugend gemeint: „Ich denke, es ist eben das einzig Richtige, Frau; aber freilich, glücklich muß man zusammen sein, das bleibt die Hauptsache.“ Und dabei hat er ausgesehen, als ob für ihn diese Hauptsache verbrieft und besiegelt wäre, als ob das Glücklichsein von ihm allein abhinge.

Christel hat ihm nachgeschaut, wie er den Weg vom Rödershof hinunter mehr gesprungen als gegangen ist, und hat still gelächelt. Nun ist’s später Nachmittag und sie sitzt mit den Kindern am Tisch. Die kleinen Mädel knieen ihr zu beiden Seiten auf dem Sofa, Lothar auf einem Stuhl, und alle drei sehen zu, wie sie Nüsse vergoldet. Die Kinder haben so erwartungsvolle glückselige Augen und von nichts weiter ist die Rede als vom Weihnachtsmann. „Bringt er den Papa auch wirklich?“ fragt Lothar.

Ueber Christels Gesicht fliegt es trübe. „Du mußt schon recht darum beten,“ erwidert sie, und zögernd setzt sie hinzu: „Und dann nimmt er dich am Ende mit, mein Liebling.“

„Und Toni und Josepha auch?“

„Das wird er gewiß thun.“

„Und dich, Tante?“

„Nein, ich bleibe hier.“

„Dann bleiben wir auch hier, ich und die Kinder,“ damit meint er seine kleinen Schwestern, „und Papa auch.“

„Papa auch!“ spricht die kleine Toni nach und nickt wichtig mit dem Köpfchen.

„O ihr – ihr –“ sagt Christel, die beiden Mädchen umfassend, und sieht sie an mit thränengefüllten Augen.

„O du Kindermund, o du Kindermund,
Unbewußter Weisheit froh,
Vogelsprachekund, vogelsprachekund
Wie Salomo!“

klingt’s in ihrer Seele. Wohl wäre es die einfachste, die richtigste Lösung! Aber Wunder geschehen nicht mehr.

„Warum weinst du?“ fragt Lothar und gleitet von seinem Stuhl, um zu ihr hinüberzulaufen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0440.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2021)