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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

mit Vorliebe auf der breiten Straße blieb und die Feldpfade und -steige „wegen leichten Ausrutschens“ mied. Er ging langsam, der alte, kurze, dicke Herr. Die Brusttaschen seines dunklen Tuchrockes waren mit Medikamenten so vollgestopft, daß sie ein ansehnliches Vorgebirge bildeten.

„Halt, Vincenz, halt!“ rief Elika. „Wohin, lieber Herr Doktor?“

Er hatte sich und seine Ladung vor den herantrabenden Pferden, in den Straßengraben gerettet, grüßte, indem er den Zeigefinger der Rechten an die Krempe des umfangreichen Lodenhutes legte, und erwiderte: „Nach Vrobek. Hab’ dort einige Kranke.“

O wie herrlich sich das traf! dann konnte ja der Herr Doktor jetzt mitfahren, den Wagen in Vrobek warten lassen und auch zur Rückfahrt benutzen. Elika setzte sich untenan aufs „Bänkchen“ und überließ ihren Platz dem Doktor. Er stieg mit Vergnügen ein; seit einiger Zeit wurde das Gehen ihm schwer. Nur placierte er sich, um nicht indiskret viel Raum einzunehmen, ganz schief und ließ einen Fuß auf dem Tritte stehen. Von einem Wartenlassen der „herrschaftlichen Equipage“ wollte er nichts hören, das konnte er nicht verantworten, es würde zu lange dauern.

„Wie lange, Doktor?“ fragte Elika.

„Eine Stunde gewiß.“

Sie seufzte tief: „Lange, sehr lange! Aber das Wetter ist schön und Vincenz und die Pferde sind gern im Freien. Also, lieber Herr Doktor, lassen Sie“ – abermals stieß Elika einen tiefen Seufzer aus – „lang’ warten, dann aber haben Sie die einzige, die große Güte – besuchen Sie auf dem Rückwege einen Patienten …“

„Keine Güte, liebes kleines Fräulein, Schuldigkeit! Wo befindet sich der Patient?“

„In Valahora. Es ist Herr Bornholm.“

Der Doktor war zusammengefahren, daß die Fläschchen und Büchsen in seinen Taschen schepperten: „Was denken Sie, kleines Fräulein? Zu Herrn Bornholm?“ – –

„Der Hansl hat ihn gebissen, ganz schrecklich.“

„Habe davon gehört, bedaure, kann nicht helfen.“

„Doktor! … So arg ist’s, daß man nicht mehr helfen kann!“ In Bestürzung hatte sie es ausgerufen und griff mit beiden Händen nach seiner Hand.

„Aber Elika! so ist’s nicht gemeint.“

„Aber liebes kleines Fräulein, so mein’ ich’s nicht!“ riefen zugleich Luise und der Doktor. Das eintönig ziegelfarbige Gesicht des alten Mannes rötete sich dunkler, die braunen Aeuglein blitzten durch die großen runden Brillengläser, der schmale, zahnlose Mund verschwand fast gänzlich im Schatten der scharf gebogenen Adlernase. Nie hatte der Doktor mehr Aehnlichkeit mit einer Eule gehabt. „Nur ich kann Herrn Bornholm nicht helfen,“ fuhr er fort, „weil ich zu Herrn Bornholm nicht gerufen werde. Herr Bornholm verachtet die Medizin wie noch so manches andre Ehrwürdige, um nicht zu sagen alles.“

„Da thun Sie ihm vielleicht doch unrecht,“ fiel Luise ein, und Elika wiederholte:

„Vielleicht? – Schweres, abscheuliches Unrecht thut er ihm.“

Der Doktor betrachtete sie mitleidig: „Die arme Kleine ist auch sehr in die Irre geführt. Der Rattenfänger, der!“

„Was hat er Ihnen gethan?“ fragte Elika und kämpfte mit Thränen des Zornes.

„Dasselbe, was er Ihnen gethan hat, den Joseph zur Flucht verleitet.“

„Lüge! Das ist eine Lüge, das ist Verleumdung!“

„Kann ihn gut brauchen auf seinen australischen Besitzungen als unbesoldeten Diener.“ Der laute Protest der beiden jungen Damen störte ihn nicht, er überbot sich noch: „Geben Sie acht, rate ich, geben Sie sehr acht, sonst gehen Leopold und Franz denselben Weg.“

„Nicht Ihr Ernst, Herr Doktor,“ sagte Luise, „Herr Bornholm ist an der Flucht Josephs ganz unschuldig. Das glaube ich.“

„Ich weiß es,“ sprach Elika. „Sie haben ihm unrecht gethan, Sie haben ihn verleumdet, Herr Doktor … Machen Sie das gut,“ setzte sie mit einer plötzlichen Wendung hinzu, „gehen Sie zu ihm!“ Sie bat liebenswürdig, schmeichelnd, inständig, und der Doktor wand sich in Seelenpein. Ihr Nein sagen, ihr etwas verweigern, ihr, der jeder – und er wahrlich nicht zuletzt – so gern den Willen that, immer mit dem Hintergedanken, wie lange wird man’s noch können? Sie sah jetzt beunruhigend übel aus, blaß und aufgeregt, und nichts war schädlicher für sie als Aufregung.

„Bitten Sie nicht! ich bitte Sie, nicht zu bitten, ich halte das nicht aus.“ Er machte sich los von den kleinen Händen, die seine Hand wieder flehend umklammert hatten. „Bleiben Sie stehen, Vincenz; einen Augenblick. So.“ Schwerfällig erhob er sich und klomm mühsam aus dem Wagen. „Ich danke, ich gehe lieber,“ beantwortete er die Ausdrücke des Bedauerns, die Luise und Elika ihm nachriefen.


„Bleib’ bei mir, bis ich eingeschlafen bin,“ sagte am Abend die Kleine zu Luise, die ihr beim Auskleiden behilflich gewesen war und sie zu Bett gebracht hatte wie ein Kind.

„Ich bleibe, aber gesprochen wird nicht.“

„Kein Wort?“

„Nein.“

„Also kein Wort, nur eine Frage: Glaubst du, daß der Doktor ein guter Mensch ist?“

„Freilich glaub’ ich das.“

„Nun, wenn die Guten lügen und verleumden, will ich die Bösen lieb haben.“

Luise erwiderte nichts, setzte sich an den Tisch, nahm eines der Bücher, die dort lagen, und schlug es auf. Sie blätterte, las, sah nach dem Titel: „Buch der Lieder“. Sie wußte, daß es existierte, daß es berühmt war, in der Hand hatte sie es nie gehabt. Ihren Eltern blieb kein Geld übrig, um Bücher zu kaufen; und die Zeit, sie zu lesen, hätten sie ihrer Tochter am wenigsten schaffen können. Sie brauchten Luisens Zeit für sich, die ganze, legten Beschlag auf die Thätigkeit ihrer Tage, die Ruhe ihrer Nächte und spendeten ihr den herben Trost: „Es wird ja nicht lange dauern.“ Es hatte auch wirklich nicht lange genug gedauert, um den Frühling in einer jungen Seele im Dienst des Alters zu ersticken. Sie waren hingegangen, die armen Verbitterten und ewig Unzufriedenen, und ihre Einzige, die alles für sie gethan, war mit der Empfindung an ihrem Grabe gestanden, daß sie ihnen nichts gegeben, immer nur von ihnen empfangen habe. Ihren Lebensmut hatten sie ihr nicht gebrochen, die stille und gleichmäßige Heiterkeit, deren sie so sehr bedurfte, nicht getrübt. Die beiden hohen Güter waren ihr geblieben, ließen sie einer traurigen, einsamen Zukunft gelassen entgegen sehen.

Sie hatte so viel Versäumtes nachzuholen, zu lesen, zu lernen. Wenn man denkt! mit diesem Buche, in dem eine Welt des Schönen ihr aufging, das eine Sprache sprach, wie sie noch keine vernommen, in ihrem Innern Saiten ins Schwingen brachte, die noch keine Regung durchzittert hatte, mit diesem Wunderbuche war die vierzehnjährige Elika wohl vertraut. Sie hatte fast auf jedem Blatt einzelne Stellen und Strophen angestrichen und mit haarfeinen Buchstaben schwungvoll an den Rand geschrieben: Herrlich! – Und man durfte sich ihrer Führung anvertrauen, sie verstand aus dieser Fülle des Reichtums das Kostbarste zu wählen.

Merkwürdiges kleines Ding! Luise wendete sich und sah von dem Buche auf und zu Elika hinüber. Die lag still, die Arme auf der Decke, und war hellmunter. „Du schläfst noch immer nicht?“

„Nein, lies nur weiter, ich werde noch lange nicht schlafen, ich muß nachdenken.“

Luise erhob sich, kniete am Bette nieder, stützte die Ellbogen auf und lehnte die Wange an die gefalteten Hände. „Worüber mußt du nachdenken?“ fragte sie.

„Ueber diese Dummheit … Ist das nicht zu dumm?“

„Was denn?“

„Daß sie glauben, daß Herr Bornholm ihn verleitet hat. Herr Bornholm hat nichts gewußt, niemand hat etwas gewußt“ … Die zwei Worte: nur ich, schwebten ihr auf den Lippen, sie sprach sie aber nicht aus. „Joseph ist fort, weil er gewollt hat, nicht weil ein andrer gewollt hat. Er ist fort, weil …“

„Weil ihn die Buch- und Schulweisheit anwiderte,“ sprach Luise.

„Auch noch wegen etwas andrem. Ich hab’ es damals nicht verstanden, ich war zu klein – jetzt weiß ich es.“ Sie richtete

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0424.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2021)