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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Tönen des greisen Spinetts begrüßt. Es stand im Salon, neben der Thür, die auf einen schmalen Altan mit bauchigem Gitter führte und geöffnet war. Elika musizierte. Sie spielte in allerfreiester Manier – eine offenbar eigene Komposition. Einem ohrenbeleidigenden Allegro folgte ein wunderliches Andante, dem eine Coda angehängt war, die kein Ende finden konnte. Höchst lächerlich und doch wieder rührend, dies ausdauernde Suchen und nicht Finden. Endlich beschied sie sich, die Kompositeurin gab die vergeblichen Versuche, ihr Gefühl musikalisch zum Ausdruck zu bringen, auf, und die Sängerin machte sich ans Werk. Ihre junge, noch etwas schrille Stimme erhob sich und schmetterte laut, jubelvoll und begeistert in die Lüfte hinaus:

„Willkommen du neuer, du sonniger Tag,
Du reiner, du heller, pulsierender Schlag
Vom klopfenden Herzen der Zeit!“

Es war aus, fing aber gleich wieder von neuem an. Unermüdlich, mit immer höherem Schwung trug Elika ihr Jubellied vor. Sie ließ sich durch Luisens Eintreten nicht stören, saß da, wie sie aus dem Bette gestiegen war, in einem langen Nachthemde, das ihr bis an die Knöchel reichte, und trat das Pedal mit nackten Füßchen.

„Hör’ nur zu,“ sagte sie, „das ist mir eingefallen gleich beim Erwachen, wie ich gesehen hab’, daß es so schön ist.“

„Das Wetter?“

„Freilich. Gefällt dir mein Lied? … Ja? Nein? Sag’s aufrichtig.“

„Soll ich wirklich? Nun, ich weiß nicht recht; es kommt mir ein bißchen wie ein Unsinn vor. Aber jetzt an deine Toilette, Kind!“

Am Nachmittag kam ganz Velice herüber. Die Tanten mit Frau Heideschmied und Apollonia zu Wagen, Kosel und seine Söhne zu Pferde, Herr Pfarrer und Herr Heideschmied zu Fuße. Man versammelte sich im Salon, dem sogenannten „gemütlichen Prunkgemach“. Für die Gemütlichkeit sorgten die traulichen Kattunschlafröcke der Möbel, den Prunk vertraten die Wände. Als man von ihnen die zerfetzten Tapeten herabgerissen hatte, waren schadhafte, aber schöne Panneaux zum Vorschein gelangt, die sorgfältig aus den Rahmen gelöst, geputzt, geflickt und gestopft wurden. Eine herrliche Winterarbeit, an der die Damen aus Velice und ihre Gefolgschaft sich eifrig beteiligten. Nun erfreute der alte Wandschmuck sich wieder des Tageslichtes. Bescheiden und würdig grüßte er herunter in seinen diskreten Farben, seiner korrekten, braven Zeichnung. Goldene Karossen fuhren, kühne Reiter sprengten vorbei, blauseidene Herren verbeugten sich zierlich vor rosaseidenen Damen unter einem grünlich schimmernden seidenen Himmel. Und die Wölbungen und die Decke zeigten, nachdem sie gehörig gefegt worden und jede Spur der häuslichen Niederlassung auch der letzten Fledermausfamilie weggetilgt war, noch Ueberreste von Freskomalereien. Was sie vorstellten, war aber nicht mehr zu erkennen. – Und das ist gut, dachte Renate, denn es war gewiß etwas Mythologisches.

Liebe alte Renate! Da saß sie jetzt in ihrer Sofaecke, hörte der Schilderung zu, die Luise und Elika von ihrem gestrigen Abenteuer im Walde machten, hatte den großen Arbeitssack vor sich auf dem Tische liegen und hatte ihn noch nicht einmal aufgemacht.

Die Jahre verflogen immer rascher, wie ihr schien, und jedes der leise hineilenden legte ihr eine schwerere Last, unter der ihre einst hohe und tannengerade Gestalt sich immer etwas tiefer, immer etwas schiefer neigte, auf den Rücken. Unaussprechlich sorgenvoll konnte sie manchmal aussehen, so tief bekümmert, daß die Optimistin Charlotte unruhig wurde und wie in diesem Augenblick ihre Hand auf die der Schwester legte und in aufmunterndem Tone fragte:

„Nun, was ist denn?“

„Nichts zum Glück!“ sagte Leopold. „Aber wie war Ihr denn, als der Blitz so nahe von Ihr eingeschlagen hat?“ Wenn er Elika besonders lieb hatte, sprach er immer zu ihr in der dritten Person. Er rückte seinen Sessel in die Nähe des ihren und umschlang dessen Lehne mit wahrer Zärtlichkeit. Franz war auf einem Schemel zu ihren Füßen placiert – die Sitzgelegenheiten des Prunkgemachs reichten für die zahlreiche Gesellschaft nicht aus – und sah mit brummiger Liebe zu der Kleinen hinauf:

„Was hat sie auch auszugehen beim Gewitter! Herr Bornholm hat recht, daß er gefragt hat.“

Nun war der Name des Mannes ausgesprochen, der schon die ganze Zeit hindurch die Gedanken Tante Renatens peinlich beschäftigte. Bornholm, Bornholm! – War der Verkehr mit ihm nun angebahnt zum Unheil für die beiden Jünglinge, die einem schlechten Einfluß vielleicht zugänglicher waren als ihr Bruder Joseph? Sie hatte nun doch zur Strickerei gegriffen, förderte mit bedächtigem Eifer die Vollendung eines ausgezeichneten „Seelenwärmers“ und seufzte einmal ums andere tief auf, denn es war jetzt nur noch die Rede von Bornholm.

„Ich muß ihn sehen! ich gehe zu ihm!“ rief Leopold, und Franz: „Ich gehe mit!“

„Aber junge Herren!“ „Was fällt euch – was fällt Ihnen ein?“ „Aber Kinder, Kinder!“ wurde ihnen fast zugleich von dem Herrn Pfarrer, von Kosel, von Heideschmied und von den alten Tanten erwidert. Die junge Tante aber sprach: „Denkt nicht daran; ihr würdet miserabel empfangen, und von Joseph erfahrt ihr durch Herrn Bornholm nichts. Wenn ihr gesehen hättet, wie er gegen Elika war! … Noch nie ist jemand so widerwärtig gegen sie gewesen.“

Die Röte der Entrüstung stieg Franz in die Wangen: „O je, dieser, dieser … wirklich? und wie denn?“

„Als ob es lächerlich und vorwitzig wäre, daß sie nach ihrem Bruder fragt: ‚Wissen Sie das nicht?‘ ‚Das wissen Sie ohnehin?‘ ‚Schreibt er Ihnen denn nicht?‘ – das waren seine Antworten. Die Kleine ist aber auch bös’ geworden. Nach dem Gewitter am Himmel gab’s eines in einem Fingerhut.“

Sie erzählte von dem Zorn Elikas, und die Damen schüttelten die Köpfe, Apollonia schlug die Hände zusammen und murmelte: „Nein, das Kind!“

Der Herr Pfarrer jedoch erhob drohend den Finger: „Ei, ei, Fräulein Elika, wo ist da die Geduld geblieben, die weibliche Sanftmut?“

Die Kleine hatte bis jetzt geschwiegen, ein lammfrommes Gesicht gemacht und nachdenklich vor sich hingesehen. Langsam erhob sie nun ihren Blick zu dem geistlichen Herrn und sprach inständig flehend: „O, Herr Pfarrer, erbarmen Sie sich seiner, gehen Sie zu ihm!“

„Was?“ „Wer?“ „Wohin?“ erscholl’s im Kreise.

„Ich? Was soll ich bei ihm?“ fragte der Priester und Leopold sprach:

„Er ist ja ein Atheist.“

Renate ließ ein warnendes „Pst!“ vernehmen, von einem Augenwink begleitet, den leider Elika bemerkte. Ein sogleich unterdrücktes Lächeln glitt über ihre Lippen.

„Auf alle Fälle ist Bornholm ein Protestant,“ sagte Kosel.

„Das macht nichts, Papa, trotzdem könnte der Herr Pfarrer ihm doch zureden, ein besserer Mensch zu werden und gut gegen die Verwandten von seinem Freund; denn Joseph ist sein Freund.“

Alle sahen einander erstaunt an. Leopold hatte einen seiner gewohnten Heiterkeitsanfälle:

„Ich sag’s ja, unsere arme Kleine, ein Engel, ein purer Geist!… Und daß der Bornholm so grob mit Ihr war, ärgert Sie gar nicht?“

„O ja! es hat mich ja geärgert, ich bin ja zornig gewesen.“

„Ihr Zorn! Wenn Sie zornig ist, das ist, wie wenn ein andrer am freundlichsten und liebsten ist.“ Ihre Brüder behaupteten, Apollonia bestätigte es, und sie kannte das Kind, von seinem ersten Atemzug an kannte sie’s.

Elika heimste das Lob ohne Vergnügen ein und lehnte es endlich ganz ab. „Wer weiß, wer weiß, ob du mich kennst,“ meinte sie und ließ Poli reden, und behelligte den Herrn Pfarrer von neuem mit ihrer Bitte, diesem Bornholm geistlichen Zuspruch zu gewähren, und von neuem bemerkte Kosel, daß Bornholm „auf jeden Fall“ ein Protestant sei. Auch die übrigen sagten etwas, sogar die vorsichtige Frau Heideschmied placierte ihr „petit mot“. Jeder und jede wiederholte sich mit Ausdauer und die Konversation wurde ein gesprochenes Ringelspiel.

Franz brachte zuerst Abwechslung in die Sache, indem er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0390.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2021)