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bedeckt ist, da ist keine Möglichkeit, daß im Freien schädlicher Staub vorhanden sei; der Kranke ist, so lange er in freier Luft sich aufhält, geschützt gegen alle schlimmen Wirkungen der Staubeinatmung. Namentlich ist die Luft frei von schädlichen Kokken und Bakterien. Man kann z. B. im Hochgebirge frisches Fleisch einfach an der Luft trocknen lassen, ohne daß es in Fäulnis übergeht. Dazu trägt freilich auch bei die dünnere Luft, der geringere Luftdruck, wodurch das Eintrocknen beschleunigt wird; und vielleicht ist diese eintrocknende Wirkung der Luft in manchen Fällen mit beteiligt an dem günstigeren Verlauf der Lungenkrankheit. Die Hauptsache ist aber, daß der Kranke gesichert ist gegen das Auftreten von Mischinfektionen, die so oft einen schlimmen Verlauf der Krankheit veranlassen. Und auch die etwa schon bestehenden Mischinfektionen können eher gebessert werden, weil die Bakterien keinen neuen Zuwachs erhalten.

Es sind ferner Erkältungskrankheiten im Hochgebirge seltener als in der Ebene, zum Teil deshalb, weil die mikroskopischen Krankheitserreger, die außer der Erkältung noch nötig sind, damit ein Schnupfen oder ein Lungenkatarrh entstehe, in der Luft nicht vorhanden sind. Der Kranke kann sich einigermaßen abhärten ohne die Gefahr, sich dabei eine Erkältungskrankheit zuzuziehen. Dabei kommt noch ein anderer Umstand in Betracht. Die örtlichen Luftströmungen, die Winde, die durch ungleiche Erwärmung des Bodens entstehen, und die oft viel schädlicher sind als die allgemeinen und verbreiteten Luftströmungen, fehlen im Winter in den Thälern des Hochgebirges fast ganz; denn eine bedeutende Ungleichheit in der Erwärmung des Bodens ist nicht möglich, weil der Schnee niemals über den Gefrierpunkt erwärmt werden kann.

Und nun noch ein wichtiger Punkt. Im Winter, wenn in des Thales Gründen uns der kalte Nebel drückt, dann ist häufig auf der Höhe der schönste Sonnenschein. Beim Aufenthalt in der Höhe liegen viele Wolken und Nebel, die im Tiefland die Sonne verdecken, unter uns. Und die Sonnenstrahlen, die nicht durch so viele Luftschichten hindurch zu gehen brauchen, haben eine viel kräftigere Wirkung. So erklärt es sich, daß im Hochgebirge, auch wenn das Thermometer im Schatten noch 10 Grad unter dem Gefrierpunkte steht, der Kranke in der Sonne spazieren gehen oder auch ruhig sitzen oder liegen kann, ohne von der Kälte zu leiden. In Davos kann sich der Kranke mehr im Freien aufhalten als an manchen südlichen Kurorten, und die freie reine Luft ist für ihn das wohlthätige Element. Die starke Sonnenbeleuchtung ist aber auch noch in anderer Weise von Vorteil. Pilze gedeihen nicht im Sonnenschein, und die meisten Kokken und Bakterien werden durch helles Sonnenlicht zerstört, und so trägt der Sonnenschein dazu bei, die Luft frei zu erhalten von schädlichen Mikroorganismen. Der Mensch aber gedeiht im Licht und im Sonnenschein, und so gehört die Sonne zu den wichtigsten Kurmitteln der Höhenkurorte.

Nachdem ich so die günstigen Wirkungen der Höhenkurorte bei Lungenschwindsucht dargelegt habe, möchte ich doch anderseits vor zu großen Erwartungen warnen. Nicht alle Kranke mit Lungenschwindsucht, die ins Hochgebirge geschickt werden, werden dort geheilt. Bei vielen ist die Krankheit schon zu weit vorgeschritten, andere können wegen äußerer Umstände den Aufenthalt nicht so lange fortsetzen oder so oft wiederholen, als es für die Heilung nötig wäre, bei anderen sind es innere Umstände, die die Heilung unmöglich machen, z. B. Mängel der Konstitution, die angeboren oder ererbt sein können, oder irgendwelche Krankheiten in anderen Organen des Körpers. Für manche Kranke ist das Hochgebirge überhaupt nicht passend. Dahin gehören zunächst alle, bei denen die Krankheit schon so weit gediehen ist, daß eine Heilung unmöglich ist. Ferner wird man im allgemeinen Kranke nicht hinschicken, so lange sie Fieber haben; doch kommt es vor, daß ein Fieber, welches von Mischinfektion abhängt, im Hochgebirge sich bessert. Aber auch dort gehört jeder Kranke, der Fieber hat, dauernd ins Bett; man soll ihn erst aufstehen lassen, wenn das Fieber vollständig aufgehört hat. Auch Kranke, die nicht noch einen gewissen Vorrat von Lebensenergie und Widerstandsfähigkeit haben, ertragen nur schwer einen so bedeutenden Klimawechsel; bei solchen kann eher noch ein südlicher Kurort in Frage kommen. Wo dagegen erst die Anfänge der Krankheit bestehen, und wo im übrigen die körperlichen Verhältnisse noch günstig sind, da kann von einer Kur im Hochgebirge eine vollständige Heilung erhofft werden. Es ist deshalb von so großer Wichtigkeit, daß schon die ersten Anfange der Krankheit richtig erkannt und behandelt werden. Aber auch wenn ein Kranker nicht vollständig geheilt, sondern nur wesentlich gebessert wird, so müssen wir dies als einen Erfolg bezeichnen. Viele Kranke, die in der Heimat bald zu Grunde gehen würden, kommen durch eine oder durch wiederholte Kuren im Hochgebirge so weit, daß sie nachher wieder jahrzehntelang mit Freudigkeit in ihrem Beruf thätig sein können, daß sie von ihrer Krankheit nur geringe Beschwerden haben und vielleicht ein hohes Alter erreichen.

Endlich aber darf nicht verhehlt werden, daß mit dem Aufenthalt an einem Höhenkurort auch Nachteile verbunden sein können, daß auf manchen Kranken dort Schädlichkeiten einwirken, die den Erfolg der Kur beeinträchtigen oder vereiteln, namentlich an einem Weltkurort wie Davos, wo im Winter weit mehr als 2000 Kurgäste gleichzeitig anwesend sind. Ich denke dabei weniger an die Gefahren, welche der Umgang mit so vielen Lungenkranken mit sich bringt; denn es wird gerade an solchen Kurorten so peinlich gesorgt für Reinlichkeit und für Desinfektion des Auswurfs, daß man dort vielleicht sicherer ist vor Ansteckungsgefahr als in der Heimat, wo doch auch Lungenkranke vorhanden sind.

Auch wird einem Kranken, der selbst schon Bacillen in der Lunge hat, der Verkehr mit Lungenkranken nicht weiter schaden, und Kranke, bei denen noch keine Bacillen nachgewiesen sind, schickt man ohnehin an Kurorte, die weniger von Schwindsüchtigen besucht werden. Ich denke vielmehr an die vielen Versuchungen, welche der Aufenthalt an einem solchen Weltkurort mit sich bringt, wo ein junger Mensch sich oft schwer entschließt, seine Lebensweise und sein ganzes Verhalten so einzurichten, wie es für die Heilung am besten sein würde. Viele Lungenkranke sind geneigt zu einer optimistischen Beurteilung ihres Zustandes; wenn es ein wenig besser geht, halten sie sich schon für nahezu geheilt, und einigermaßen leichtsinnige Leute glauben dann nicht mehr der Geselligkeit und dem Vergnügen entsagen zu müssen, sie beteiligen sich an Festlichkeiten und an mancherlei Veranstaltungen, die für die Lunge durchaus nicht heilsam sind. Man hat schon behauptet, daß mehr Lungenkranke an ihrem Temperament zu Grunde gehen als an ihrer Krankheit. Ich halte einen solchen Ausspruch für eine starke Uebertreibung, aber ich muß doch zugestehen, daß etwas Wahres zu Grunde liegt. Ueberhaupt, wenn es möglich wäre, mit einer gewaltsamen Kraftanstrengung die Krankheit zu überwinden, so wäre dies den meisten kranken Menschen angenehmer, als wenn dazu ruhiges Ausharren, lange dauernde Entsagung und Geduld erforderlich sind. Und so möchten auch manche Lungenkranke mit Gewalt ihre Lungen wieder in Ordnung bringen. Sie treiben sogenannte Lungengymnastik, Bergsteigen, Radfahren, Schlittschuhlaufen, Schlitteln und anderen Sport, bei dem die Atmung stark angestrengt wird. Es hat auch schon Aerzte gegeben, die bei Lungenkranken solche Gymnastik empfohlen haben. Und doch gehört keine tiefe ärztliche Wissenschaft, sondern nur der einfachste Verstand dazu, um zu begreifen, daß es für eine Lunge, in der Geschwüre vorhanden sind, nur schädlich sein kann, wenn sie häufig übermäßig ausgedehnt und gezerrt wird. Der Gesunde mag Gymnastik und auch Lungengymnastik treiben, der Kranke soll sich ruhig halten, und namentlich der Lungenkranke soll seine Lunge nicht mehr bewegen, als unbedingt nötig ist.

Solche Schädlichkeiten können nur vermieden werden durch ärztliche Aufsicht. Darum ist es erfreulich, daß an den Höhenkurorten immer mehr geschlossene, von Aerzten geleitete Anstalten entstehen, so in Davos, in Arosa, in Leysin im Waadtland – geschlossene Anstalten, in denen die Kranken unter strenger ärztlicher Aufsicht stehen. Aber die meisten derartigen Anstalten sind nur wohlhabenden Kranken zugänglich. Wir müssen es deshalb doppelt freudig begrüßen, daß jetzt in Davos eine deutsche Heilstätte begründet werden soll für minderbemittelte Kranke, die sonst nicht daran denken könnten, sich die Heilwirkungen des Höhenklimas lange genug zu nutze zu machen.

Nun aber haben manche gefragt, warum man denn im Auslande, in der Schweiz, eine solche Heilstätte errichten wolle, ob nicht die Kranken lieber in Deutschland bleiben sollten. Ein Teil der Heilwirkungen, welche das Hochgebirge der Schweiz liefert, ist auch im deutschen Mittelgebirge an den passenden Stellen vorhanden. Und es giebt ja auch in Deutschland Heilstätten

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