Seite:Die Gartenlaube (1898) 0380.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

auch schon in größerem Maßstabe projektiert wurde, während längerer Zeit mit einem Dampfer etwa im Mittelmeer Spazierfahrten zu machen.

Großes Aufsehen in ärztlichen und in anderen Kreisen hat es erregt, als seit der Mitte der 60er Jahre die Höhenkurorte in Wettbewerb traten mit den südlichen Kurorten. Es war zunächst das mehr als 1500 Meter hoch liegende und von noch höheren Bergen umgebene Thal Davos in Graubünden, welches als Kurort für Schwindsüchtige empfohlen wurde, und zwar nicht nur als Sommerkurort – im Sommer hatte man schon früher die Kranken ins Gebirge geschickt –, sondern vorzugsweise als Winterkurort. Von dem Winter in Davos erhält man eine gute Vorstellung, wenn man die von dem dortigen Kurverein für jeden Monat ausgegebenen Wetterkarten betrachtet. Während der Monate Dezember, Januar, Februar ist die mittlere Tagestemperatur nur selten über dem Gefrierpunkt, und Temperaturen von 24° unter Null sind nicht selten. Wie sollte in einem so eisigen Klima ein Schwindsüchtiger gedeihen, den man sonst nach dem warmen Süden zu schicken pflegte? Es war gewiß berechtigt, wenn dagegen die schwersten Bedenken erhoben wurden. Viele Aerzte haben sich lange gesträubt gegen die Anerkennung der Heilwirkungen des Hochgebirges, und manche haben davon auch jetzt noch keine richtige Vorstellung. Aber alle Bedenken sind überwunden worden durch die Thatsache, daß wirklich viele Schwindsüchtige von dort gebessert oder selbst dauernd geheilt zurückkommen.

Ich kann aus eigener Erfahrung über eine große Reihe von Fällen berichten, die ich vor dem Aufenthalt in Davos oder einem andern Höhenkurort und dann nachher wieder untersucht habe und ich kann sagen, daß die Kranken im Durchschnitt dort während des Winters sich bedeutend besser befunden haben, als es zu Hause zu erwarten gewesen wäre.


II.0 Die Heilwirkung des Höhenklimas.

Wie ist die günstige Wirkung des Höhenklimas zu erklären? Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht, und die Erklärung ist nicht ganz einfach. Es ist nicht ein einzelner Umstand, etwa ein specifischer Einfluß des Höhenklimas, worauf die Wirkung beruht. Man hat Meerschweinchen, die man in Berlin durch Impfung tuberkulös gemacht hatte, nach Davos geschickt; wie zu erwarten war, sind sie dort ebenso zu Grunde gegangen wie die, die in Berlin geblieben waren. Vielmehr ist bei der Heilwirkung des Höhenklimas eine ganze Reihe verschiedener Umstände zu berücksichtigen.

Zuerst war man auf den Einfluß des Höhenklimas aufmerksam geworden durch die schon seit längerer Zeit gemachte Beobachtung, daß oberhalb einer gewissen Höhe Schwindsucht unter der Bevölkerung fast gar nicht vorkommt. Die Höhe, in welcher diese relative Immunität gegen Tuberkulose beginnt, ist je nach dem Breitengrade verschieden. In den Tropen, z. B. in den Anden von Peru und Ecuador, hört die Schwindsucht erst auf bei einer Höhe von etwa 2000 Metern, in der Schweiz schon bei etwa 1000 Metern, in Mitteldeutschland bei etwas mehr als 500 Metern und im höheren Norden schon bei einer noch geringeren Erhebung. Wenn wir diese Immunität erklären könnten, so hätten wir damit vielleicht auch eine Erklärung für die Heilwirkung des Höhenklimas.

Unzweifelhaft beruht die Immunität des Hochgebirges zum Teil auf dem Umstand, daß dort die Bevölkerung weniger dicht ist als in der Ebene. Die Schwindsucht ist überhaupt durchschnittlich um so häufiger, je dichter gedrängt die Menschen zusammenleben, und es ist dies leicht verständlich bei dem ansteckenden Charakter der Krankheit. Aber dieser Umstand allein reicht nicht aus für die Erklärung. Man hat ferner darauf hingewiesen, daß die Lungen der Gebirgsbewohner, weil sie mehr geübt seien, auch kräftiger und widerstandsfähiger seien. Aber es kommt nicht selten vor, daß Leute aus dem Gebirge, wenn sie sich lange im Tiefland und namentlich in den großen Städten aufgehalten haben, dort an Lungenschwindsucht erkranken: sie sind durch ihre kräftigeren Lungen keineswegs geschützt. Wenn sie dann aber früh genug ins Gebirge zurückkehren, so werden sie gewöhnlich geheilt, und die Krankheit zeigt dann auch im Gebirge eine auffallend geringe Neigung zur Weiterverbreitung.

Von Bedeutung ist jedenfalls die dünnere Luft in der Höhe, der geringere Luftdruck. Das Barometer, das in Meereshöhe durchschnittlich auf 760 Millimeter steht, kommt in Davos nur wenig über 630 Millimeter, bleibt also etwa 130 Millimeter niedriger. Dieser Umstand ist von Wichtigkeit für die Atmung. Wir müssen, um die nötige Menge Luft in die Lungen zu bringen, in der dünneren Luft tiefer atmen, und daraus haben manche die günstige Wirkung des Höhenklimas erklären wollen, indem sie annahmen, daß die stärkeren Atembewegungen für die Lunge von Vorteil seien. Ich kann dieser Ansicht nicht zustimmen; vielmehr würde ich es eher für einen Nachteil halten, wenn die kranke Lunge genötigt wäre, sich mehr auszudehnen. Ich komme auf diesen Punkt noch zurück.

Von größerer Bedeutung ist vielleicht ein anderer Umstand, der in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Die Menschen, die in der Höhe leben, haben mehr rote Blutkörperchen als die Menschen im Tiefland. Und wer sich ins Hochgebirge begiebt, bei dem nimmt schon nach kurzer Zeit die Zahl der roten Blutkörperchen merklich zu; es gilt dies für Kranke ebenso wie für Gesunde. Der Gesunde hat im Tiefland in einem Kubikmillimeter Blut gegen 5 Millionen roter Blutkörperchen, im Hochgebirge steigt ihre Anzahl auf 6 oder 7 Millionen oder noch darüber. Die roten Blutkörperchen sind aber die Sauerstoffträger, sie vermitteln die Atmung; man kann deshalb sagen, daß ihre Zunahme einen zweckmäßigen Ausgleich darstellt gegenüber der dünneren Luft. Diese Vermehrung der roten Blutkörperchen ist sicher wesentlich beteiligt bei der Acclimatisation für den Aufenthalt in der Höhe. Sie ist aber ferner von Einfluß auf den Gesamtstoffumsatz, und wir können uns denken, daß sie wohl auch zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit und somit zur Heilung der Krankheit beitrage.

Um die ganze Heilwirkung des Höhenklimas zu verstehen, müssen wir nochmals auf das zurückkommen, was früher schon besprochen wurde. Wir haben gesehen, daß für die Heilung der Lungenschwindsucht hauptsächlich zweierlei erforderlich ist, nämlich einerseits eine Erhöhung der Widerstandsfähigkeit gegenüber den eingedrungenen Krankheitserregern und anderseits der Schutz gegen neue Schädlichkeiten und insbesondere gegen neue Krankheitserreger, durch die die Tuberkulose zu einer Mischinfektion werden würde. Diese beiden Erfordernisse für die Heilung liefert das Hochgebirge wie kein anderes Klima, und darauf beruht nach meiner Ansicht in der Hauptsache der günstige Einfluß der Höhenkurorte bei der Lungenschwindsucht.

Bekanntlich stellt sich bei den meisten Menschen, bei Gesunden wie bei Kranken, beim Aufenthalt im Hochgebirge ein vermehrter Appetit ein; sie nehmen mehr Nahrung auf, und bei vielen nimmt deshalb das Körpergewicht zu. Auf der anderen Seite ist aber auch der Verbrauch, der Gesamtstoffumsatz ein größerer, und deshalb ist die Zunahme an Körpergewicht meist nicht so groß, wie es der vermehrten Nahrungsaufnahme entsprechen würde. Aber gerade diese Steigerung des Stoffumsatzes entspricht einer gesteigerten Lebensenergie, und sie erhöht die Widerstandsfähigkeit. Wie sehr die Widerstandsfähigkeit abhängig ist von dem Gesamtstoffumsatz und der dadurch bedingten Lebensenergie, das wird am deutlichsten, wenn wir den äußersten Fall betrachten, wenn wir sehen, was geschieht, sobald der Gesamtstoffumsatz und damit das Leben ganz aufhört, in der Leiche: dann erhalten sofort die niederen Lebewesen, die überall und auch in unserem Körper verbreitet sind, die Kokken und Fäulnisbakterien, das Uebergewicht. Wir können deshalb sagen, daß der Mensch im allgemeinen um so mehr geschützt ist gegen alle Arten von Bakterien und auch von Krankheitserregern, je lebhafter sein Gesamtstoffumsatz und die davon abhängige Lebensenergie ist. Die Steigerung der Lebensenergie, die im Hochgebirge stattfindet, hat einen großen Anteil an den Heilwirkungen des Höhenklimas.

Auch das zweite Erfordernis für die Heilung, der Schutz gegen anderweitige Schädlichkeiten, wird im Hochgebirge erreicht in einer Weise, wie es anderswo nicht leicht möglich ist. Daß der Kranke aus seiner gewöhnlichen Lebensweise und aus allen anstrengenden Beschäftigungen und Verpflichtungen herauskommt, das hat der Höhenkurort gemein mit allen anderen Kurorten. Sein wesentlicher Vorzug besteht aber in der Reinheit der Luft. Besonders im Winter, wenn das Land weit und breit mit Schnee

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0380.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2021)