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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Nur heraus aus dem Walde! nur ins Freie, wir wollen zurück,“ sagte Luise in peinlicher Angst um das ihr anvertraute Kind.

Dieses Kind aber, dieses unberechenbare, war von einem Uebermutsrausche erfaßt: „O nein! weiter wollen wir. Wir sind ganz nah’ von Valahora, sag’ ich dir, Tante. Der nächste Blitz wird es uns zeigen.“

Wieder lief sie voran, stieß aber plötzlich einen Schrei aus und taumelte. Einen Augenblick war alles rings um sie von grellem Licht blendend erleuchtet, der Boden zitterte. Mit hartem, knatterndem Gedröhn war ein Wetterstrahl an der höchsten Tanne herunter in die Erde gefahren.

„Um Gottes willen, Elika!“ Luise stürzte auf sie zu und riß sie an sich: „Es ist nichts … nichts geschehen … bist nur erschrocken, du arme Kleine!“

„Nur erschrocken, die arme Kleine,“ antwortete statt der noch Sprachlosen spöttisch eine tiefe Männerstimme. Bornholm trat auf die beiden zu. „Kommen Sie heraus aus dem Wald. Was haben Sie beim Gewitter im Wald zu suchen?“ Er wendete sich und winkte ihnen, zu folgen.

Zwei Hunde sprangen herbei; zwei Freunde, Jedén und Dva. Sie tupften mit den Nasen an die Hände und an das Kleid Elikas und wedelten diskret mit den Schwänzen. Die Freude des Wiedersehens laut zu äußern wagten sie nicht. Ihr Herr war da.

„Es ist Herr Bornholm,“ flüsterte die Kleine kaum hörbar, und Luise fühlte den zarten Körper, den sie an sich gepreßt hielt, erbeben. „Ich erkenn’ ihn an seinen Hunden … O Jesus! Vielleicht ist Joseph auch mitgekommen.“ Sie erhob die Stimme so laut sie konnte: „Herr Bornholm, ist Joseph auch gekommen?“

„Nein,“ erwiderte er, ohne sich umzusehen.

Sie waren auf dem Fußpfad angelangt, den Elika vorhin gesucht hatte und der zwischen hohem Gras und niederem Gebüsch steil zur Burg hinaufführte.

In Güssen strömte jetzt der Regen nieder; das Gewitter grollte weiter und ein Wirbelsturm fegte den Wandernden kalte Duschen abwechselnd in den Rücken und ins Gesicht. So gut es ging, suchte Luise die Kleine vor dem Unwetter zu schützen, hüllte sie in ihr Tuch, spannte ihren Sonnenschirm über sie aus und kämpfte wacker mit dem Sturm, der sich seiner bemächtigen wollte. Es gelang ihm. Der Schirm flog über Bornholm hin und schlug ihm beinahe den Hut vom Kopfe. Er wendete sich lachend:

„O weh! das schützende Dach ist fort; jetzt zerfließt das Zuckerpüppchen.“

Im Hof wurden sie von Bartolomäus empfangen. Sein mürrisches Gesicht verwandelte sich in ein bestürzt mitleidiges, sobald er Elika erblickte. Viel Worte machte er nicht, aber er nahm sie in die Arme und trug sie das steinerne Treppchen hinauf in den Gang.

„Is naß und kalt wie Fischerle, arme Kleine,“ sagte er, „und weint.“

„Weil sie einen Spaziergang im Regen hat machen müssen,“ versetzte Bornholm.

Elika bäumte sich auf: „Weil Joseph nicht gekommen ist!“ Mit einem Schrei rangen die Worte sich aus ihrer Kehle: „Weil Sie ihn dort gelassen haben, allein bei den Menschenfressern. Das ist schlecht von Ihnen!“

Sie schluchzte, sie umklammerte den Hals des alten Bartolomäus und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.

Levin blieb ganz ungerührt. „Was glauben Sie denn, kleine Person?“ sagte er. „Wenn Sie glauben, daß Joseph einen Beschützer braucht, irren Sie, er ist selbst ein Beschützer.“

„Sie werden uns von ihm erzählen, Herr Bornholm,“ fiel Luise ein, „wir bitten darum. Wir fragen aber auch: wollen Sie uns Gastfreundschaft gewähren, bis der Regen aufgehört hat?“

„Selbstverständlich, Fräulein von Kosel. Ich weiß, daß Sie es sind,“ beantwortete er ihren erstaunten Blick. „Joseph hat Sie mir sehr treu geschildert.“

Er stieß die Thür seines Zimmers auf und schloß sie hinter den Eingetretenen.




Bartolomäus legte die Kleine vorsichtig auf den Diwan, und während Luise ihr das durchnäßte weiße Kleidchen, die Schuhe und die Strümpfe auszog, holte er einen dicken Plaid Bornholms herbei, in den Elika gewickelt wurde. Sie weinte noch immer. Ganz leise jetzt, aus tiefstem, schwerverwundetem Herzen, in dem echt kindlichen ätzenden Schmerz, der einem Gefühl von gräßlicher Verlassenheit entspringt: – Was wissen sie von mir, diese Erwachsenen, die so hart sind, so dumm und keinen Trost geben – und nichts können als nur sagen: „Weine nicht.“

„Weinen S’ nicht,“ wiederholte Bartolomäus zum zehntenmal. „Was weinen S’ denn?“

„O Bartolomäus, mein Guter,“ erwiderte Elika und brach, als sie zu sprechen begann, in neues Schluchzen aus, „rufe Herrn Bornholm … Er soll mir wenigstens … wenigstens … von Joseph erzählen … O Bartolomäus, mein Guter, ich werde sterben und werde meinen Joseph nicht wiedersehn!“

Das war zu viel für den Alten; er nahm das Kleidchen, die Schuhe und die Strümpfe, würgte etwas von „Herd“ und „trocknen“ hervor und verließ das Zimmer.

Luise kniete bei Elika nieder: „Hast eine arge Enttäuschung gehabt, arme Kleine. Weine dich aus; das ist gut. Wird es bald gut sein? Was meinst du? … Wie deine Augen rot sind! … und wie deine Lippen brennen!“ Sie wischte ihr mit dem Taschentuche die Thränen vom Gesicht, drückte ihre kühle Wange an den Mund Elikas, küßte und herzte sie, die sich ihre Liebkosungen in Gnaden gefallen ließ und immer nur zwischen zwei – nun doch schon trockenen – Schluchzern seufzte:

„Wann kommt denn Herr Bornholm?“

Der Ersehnte erschien endlich. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, mit der Miene eines Menschen, der einen unangenehmen Eindruck empfängt; trat an den Tisch am Fenster und legte eine Speerspitze und ein hölzernes Kampfmesser zu den Waffen, die sich dort befanden.

Wie bös’ der ist! Es verdrießt ihn, daß wir uns hier so häuslich eingerichtet haben, dachte Luise und sprach: „Wir werden Ihre Güte nicht mißbrauchen, Herr Bornholm. Wir wandern bald heim. Der Regen hat, scheint mir, fast aufgehört.“

„Schwer zu konstatieren von hier aus,“ er deutete nach dem Fenster mit den wenig durchsichtigen Butzenscheiben. „Aber warum setzen Sie sich nicht?“

Luise nahm Platz in einem großen, altmodischen Fauteuil und Levin ihr gegenüber auf der Lehne des Diwans, bis zu der die Füßchen Elikas lange nicht reichten.

„Was hat Joseph mir sagen lassen?“ fragte sie. „Er hat mir gewiß etwas sagen lassen und dem Papa und allen.“

„Durch mich hat er Ihnen nichts sagen lassen,“ erwiderte Bornholm und schlug gemächlich ein Bein über das andre. „Wir haben eine Partie ins Innere des Landes gemacht und uns vor ungefähr sechs Wochen getrennt. Ich war damals noch nicht entschlossen, nach Europa zu reisen.“

Während er sprach, ließ er Luise nicht aus den Augen. Sein Blick glitt an ihr herab, von dem zerknitterten, weißen Krägelchen, das den Hals eng umschloß, an dem übereinfachen, dunkelblauen Perkalkleide, das bespritzt und feucht in schlaffen Falten an ihrem zierlichen Körper herunterhing, bis zu den beschmutzten Schuhen, auf denen er hartnäckig haften blieb.

Wieder glaubte sie sich entschuldigen zu sollen: „Ja, ja, ich seh’s, mein Kleid trieft, meine Schuhe haben arge Spuren auf dem Fußboden hinterlassen. Bartolomäus wird mich verwünschen. Verzeihen Sie nur, Herr Bornholm.“

„Was denn?“ unterbrach er sie. „Was liegt denn daran? Aber Ihnen läuft Wasser aus den Schuhen. Wollen Sie so nach Hause gehen?“

„Ohne weiters.“

„Keine Angst vor Erkältung?“

„Nicht die geringste.“

Elika bemeisterte schwer ihre Ungeduld während dieses Zwiegesprächs. „Erzählen Sie von Joseph, Herr Bornholm!“ rief sie mit dringendem Flehen. „Erzählen Sie!“

Er wendete den Kopf zu ihr und sagte gleichgültig: „Ich bin ein schlechter Erzähler, kleine Person.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0363.jpg&oldid=- (Version vom 12.2.2021)