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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Seit Joseph fort war, hatte sie sich mit großer Innigkeit an Luise geschlossen. Ihr kam vor, daß diese junge Tante sie ungemein zu schätzen wußte und ein Verständnis für sie habe, das den Großtanten fehlte. Besonders Renate, deren Leben eine lange Uebung in der Selbstbeherrschung gewesen war, sah die Launen, denen Elika sich hingab, ihr Schwanken von einem äußersten zum andern als etwas höchst Beklagenswertes und als einen Freibrief auf alle möglichen zukünftigen Leiden an.

Einige Wochen vor ihrem dreizehnten Geburtstag erbat sich die Kleine als liebstes Geschenk die Erlaubnis, vierzehn Tage ganz allein bei Luise in Vrobek zubringen zu dürfen. Apollonia packte einen Koffer, und schon geraume Zeit vor der Uebersiedlung hielt Elika ihre Bekannten im Dorfe und die Arbeitsleute im Garten an und sprach mit großem Ernste:

„Wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte vor meiner Abreise, sage ich Ihnen also heute Lebewohl.“

Man fand das herzig und rührend und die wenigsten versäumten, sie ihrer Hingebung zu versichern. Beim wirklichen Abschied empfahl sie ihren Brüdern, sie morgen, und den Tanten, sie spätestens übermorgen zu besuchen. Ueberhaupt solle nur ja täglich jemand aus Velice hinüberkommen, sich nach ihr zu erkundigen.

Dann fuhr sie fort und lehnte sich aus dem Wagen und winkte mit dem Taschentuche, so lange auch nur die Spitze eines Rauchfangs vom Schloßdache zu erblicken war. Sie fühlte einen großen Trennungsschmerz und kostete ihn aus mit Hochgenuß.

Im raschen Trabe war der Weg längs der Parkmauer zurückgelegt worden, nun ging es den Berg hinunter, zwischen zwei Reihen alter Apfelbäume. Ihre Früchte waren schon abgenommen. Es war ein gutes Obstjahr gewesen. Zu Hügeln aufgeschichtet lagen Aepfel, Pflaumen und Nüsse auf den Feldern und daneben die Wächter im leichten oder schweren Branntweinrausche.

In einer Viertelstunde war die größere Hälfte der Reise zurückgelegt, Valahora kam in Sicht.

„Du! Du!“ rief Elika ihre Tante an, „schau hin. Bartolomäus hat alle Fenster aufgemacht. Was heißt denn das? was geschieht ihm denn? Dem muß was sein, daß er sich entschließt, die Fenster aufzumachen. … Oder,“ unterbrach sie sich plötzlich und eine helle fliegende Röte stieg ihr ins Gesicht, „lüftet er, weil er seinen Herrn erwartet? … Luise – wenn Bornholm käme, käme Joseph mit …“ Sie konnte nicht weiter sprechen, ihr Atem versagte.

Luise nahm sie in die Arme: „Mache dir keine falschen Hoffnungen. Joseph denkt noch nicht an die Heimkehr. Das sieht man ja aus seinen Briefen.“

In Vrobek kam Elika sich doch ein wenig vor wie eine verwunschene Prinzessin. Es war alles gar so einfach; das Zimmer, in dem Luise sie neben dem ihren einquartiert hatte, wie jenes weißgetüncht und spärlich eingerichtet. Am Abend brachte die Tante sie zu Bette und blieb bei ihr, bis der Kleinen die Augen zufielen. Aber sie hatte einen unruhigen Schlaf, eine Deckenrutschung fand statt und Elika erwachte im blanken Hemdchen, fröstelnd, zähneklappernd. Da dachte sie sogleich, daß sie Fieber habe, malte sich rasch und lebhaft die ganze Traurigkeit eines Sterbens in der Fremde aus und schlief, wieder fest in ihre Decke gehüllt, sanft und ruhig bis zum Morgen. Als aber Luise kam, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein, und fragte, wie sie geschlafen habe, antwortete sie: „Elend!“ und glaubte es.


Im Laufe des Vormittags kam Besuch aus Velice, am Nachmittag unternahmen Luise und Elika einen Spaziergang nach dem Walde von Valahora.

„Wir sollten auch ins Schloß,“ meinte die Kleine. „Es ist dort hübsch gruselig. Man glaubt, jetzt und jetzt wird man in das schreckliche Zimmer des Blaubart kommen. Aber man kommt nur in ganz natürliche Zimmer mit alten Kanapees und Sesseln.“

„Woher weißt du das?“ fragte Luise. „Du warst nie in Valahora; es ist euch ja verboten, hinzugehen.“

– Nun – – sie gingen doch. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraute sie’s der Tante an. Neulich erst waren sie dort gewesen, hatten auf der Promenade Herrn und Frau Heideschmied gesagt: Spazieren Sie nur weiter, wir kommen schon nach, wir wollen nur die Hunde im Forsthaus besuchen, und waren nach Valahora gelaufen.

„Eine Lüge, Kind!“

„Nur eine halbe, nur eine viertel! Wir haben wirklich Hunde besucht, die schlimmen Wolfshunde von Herrn Bornholm, die Kinder von Jedén und Dva. Uns thun sie aber nichts. Und Bartolomäus, der so bös’ ist, thut uns auch nichts. Er nimmt mich und trägt mich im ganzen Haus herum, wenn ich will. Du wirst sehen, wie lieb mich der hat, der alte Bartolomäus.“

Sie plauderte eifrig, sie suchte Luisens Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie hatte längst etwas bemerkt, das die Tante nicht bemerken sollte. Im „Wetterwinkel“ stiegen Wolken auf, die von Zeit zu Zeit ein fahles Leuchten durchzuckte. Der übrige Himmel schimmerte in feurigem Blau, die Sonnenstrahlen stachen und brannten. Wenn ein so schreckliches Gewitter käme wie an dem Tage, an dem Joseph das Haus verließ! Im Wald möchte sie von ihm überrascht werden, sich aber früher verirrt haben, die Nacht im Freien zubringen müssen. Das wäre eine Wonne! Das wäre! Herrlich stellte Elika es sich vor. In Australien würde Joseph erschrecken, wenn er davon erführe.

Sie hatten die Anhöhe überschritten, die er zu umgehen pflegte, wenn er Luise heimbegleitete, und hinter der er dann am Gartengitter wieder zum Vorschein kam, um ihr ein allerletztes Mal Lebewohl zu sagen. Eine breite Allee von Linden- und Kastanienbäumen führte durch schöne, gute Felder, die einst zu Vrobek gehört hatten und dann vom Ankömmling aus Schweden erworben worden waren, bis zum Walde.

An seinem Saume standen uralte Eichen. Kolosse mit riesigen Stämmen, schrundig und grau. Einige, schon wipfeldürr, reckten trotzig ihr stolzes Geäst; andre, vom Blitz zerspellt und zu Tod verwundet, entfalteten noch an jungen Zweigen einen dunklen Blätterreichtum. Die Bäume ringsum, knorrige Linden, die Birke, die Jungfrau des Waldes, Buchen und Erlen schienen ehrfurchtsvoll zurückzuweichen vor dieser greisen Majestät. Nur niederes Gebüsch drängte sich in ihre Nähe und Schlingpflanzen krochen an ihr hinauf mit kleinen grünen Füßchen und sogen ihr Parasitenleben aus ihrer Rinde.

Er war schön, der von jeglicher Forstkultur verschont gebliebene Wald, in dem die Natur frei und ungehindert ihre göttliche Willkür walten lassen durfte. Steile, steinige Halden, von Wasserfäden durchrieselt, schilfumkränzte, dunkle Weiher, üppige Wiesen wechselten mit dicht wucherndem Gebüsch, düstre Nadelholzbestände, durch die man hinschritt wie auf einem Teppich von Atlas, mit Abhängen und Anhöhen voll Wurzeltrieben und Brombeersträuchen.

Die wunderbare Stille des Waldes, die lebendige Stille, in der das winzige Insektenvolk lautlos sein geschäftiges Wesen treibt, wurde manchmal durch Vogelgezwitscher unterbrochen und durch ein Huschen und Flattern …

„Schau, ein Hase! … Schau, Rebhühner!“ … flüsterte Elika. „Und dort im Gebüsch, schau nur, ein Reh!“ …

„Ich habe keine Ahnung, wo wir sind,“ sagte Luise, etwas unruhig geworden. Elika behauptete, sich vortrefflich auszukennen, sie würden nun gleich auf einen Fußsteig kommen, auf dem man in ein paar Minuten zum Schloß hinaufgelange. Der Fußsteig zeigte sich aber nicht, vielmehr wurde der Wald dichter, unwegsamer, und plötzlich fuhr heulend und pfeifend ein Windstoß über die Wipfel. Die schlanken Bäume bogen sich, die mächtigen widerstanden, aber wie eine grollende Klage tönte es herab von ihren Kronen.

Luise wollte umkehren, den Weg nach Hause getraute sie sich zu finden: „Eilen wir!“ rief sie, „es steigt ein Gewitter auf.“

„Es ist schon da!“ erwiderte Elika. „Hast du den Blitz gesehn? … Und der Himmel über uns ganz schwarz!“ …

Mit unglaublicher Schnelligkeit war es heraufgestiegen. Wie dunkle, kompakte Massen türmten sich die Wolken, aus denen Feuerpfeile blendend niederschossen. Unmittelbar beinahe folgte ihnen ein dumpfes schweres Rollen. Wenige Sekunden nur noch zwischen Blitz und Donner; das Gewitter stand senkrecht über dem Wald. Eine unbeschreibliche, atembeklemmende Spannung lag in der Luft. Noch fiel kein Tropfen Regen, und dieser wilde harte Kampf der Elemente glich einem ungeheuren und thränenlosen Schmerz.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0362.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2024)