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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

fühlte sich im Gebete, unter der unmittelbaren Einwirkung des höchsten Wesens, von Schauern der Ehrfurcht und Glückseligkeit durchrieselt im Bewußtsein seiner Nähe.

Sie hatte Augenblicke süßer, wonniger Begeisterung. Besonders abends im Oratorium der Schloßkapelle, wenn sie ruhesehnend und schon etwas schläfrig dort kniete neben Tante Renate auf dem verschossenen Sammet des Betstuhls und ihren Gutenachtgruß an den lieben Gott sprach. Sie hatte ihn selbst „gedichtet“. „Meine Gedanken flattern mit müden Schwingen, aber zu Dir. Die Augen meiner Seele sind verschleiert, schauen aber aus nach Dir!“

Durch die hohen Fenster blinkten die Sterne, und ein andres Sternlein, das ewige Licht in seiner geschliffenen Krystallschale, grüßte zu ihnen hinauf. Elika lieh ihm Worte: „Das Flämmchen spricht zu euch Sterne, es sagt: Euer Licht hat der Finger Gottes entfacht, das meine die Andacht der Menschen, unsterblich sind wir beide.“

Wenn der Mond einen verklärenden Lichtstrahl herein warf und ihn ruhen ließ auf dem großen Engel, der mit entfalteten Flügeln über dem Altare schwebte, ein goldenes Kreuz in der ausgestreckten Rechten, da hefteten Elikas Augen sich wie gebannt auf ihn, da meinte sie, dem Blick der seinen zu begegnen, ihr wendete er sein schönes Angesicht zu und hielt ihr das Zeichen des Heiles entgegen. Seine stummen Lippen sprachen nur ihr vernehmbare Worte himmlischer Liebe und geheimnisvoller Verheißungen.

Ihren Brüdern erzählte sie nichts von ihren Entzückungen beim Gebete. Sie hatte kein Mitteilungsbedürfnis über die Vorgänge in ihrer tiefsten Seele. Ihre Brüder hingegen sagten ihr alles, was ihnen durch die Köpfe und die Herzen flog, sie war die Vertraute ihrer Zukunftspläne. Leopold, der seine Studien immer noch etwas von oben herab betrieb, aber die Prüfungen glanzvoll bestand, wollte Staatsmann werden und das Vaterland aus allen Wirren erlösen. Franz gedachte sich der Landwirtschaft zu widmen. Ihm machte das Lernen fortwährend große Schwierigkeiten, doch gelang es der sieghaften Lehrkunst Heideschmieds, ihn durch die Schulen zu quetschen.

Dem Einfluß seiner eigenen biedern und sympathischen Persönlichkeit verdankte der Junge auch etwas. Die Gesichter der strengsten Professoren am Gymnasium heiterten sich auf, wenn er sorgenvoll dreinschauend erschien, tief und ehrerbietig grüßte und mit heroischer Anstrengung seinen Denkapparat in Bewegung setzte. Jedes einzelne seiner hellen, kurzgehaltenen Haare strebte empor und schien um Beistand zum Himmel zu rufen. Falten bildeten sich auf der breiten, vorspringenden Stirn, die Augen glänzten, die Flügel der kurzen Nase zitterten und der Mund, der liebe, schöne, unschuldige Mund öffnete sich, die Spitze der Zunge kroch schüchtern hervor und benetzte die glühenden trockenen Lippen. Und die Antwort, die der prüfende Professor unfehlbar auf seine erste Frage erhielt, lautete:

„– Ja – ja – ja – ja – ja!“

Wenn man ihn aber nur mit einer kleinen Nachhilfe auf den rechten Weg wies, ihm nur Mut machte, dann ging’s, dann holperte er weiter und trug immer Censuren davon, die er, streng genommen, nicht verdient hätte, und nur erhielt, weil die Herren Professoren erwarteten, es werde im nächsten Jahre besser gehen.

Seit einiger Zeit war übrigens der starke blühende Junge ein Sorgenkind geworden. Der Arzt hatte ein Herzleiden bei ihm konstatiert und dringend empfohlen, ihn vor Gemütsaufregungen und vor heftiger körperlicher Anstrengung zu bewahren. Möglichst unauffällig; er selbst brauchte den Grund des unbehaglichen Gefühls, das er oft haben mußte, nicht zu kennen. „Man schiebt alles aufs Wachsen,“ meinte der Arzt, „und wenn er einmal glücklich über die Entwicklungsjahre hinausgebracht ist, haben wir viel gewonnen.“




In aller Gemächlichkeit verdiente sich Leopold sein Zeugnis der Reife und sollte bald nach Wien auf die Universität kommen. Ein Glück, nach dem er sich das ganze Jahr hindurch heiß gesehnt hatte. Selbständig sein, endlich selbständig, endlich sein eigener Herr! Es ging ihm ja gut zu Hause, und er liebte die Seinen, aber die Unabhängigkeit ist doch das Schönste, und ein Mann wird man nur draußen in der Freiheit, in der Welt!

Der Tag der Abreise war schon bestimmt und je näher er kam, eine um so größere Ungeduld erfaßte den Jüngling. Er fing an, die Stunden zu zählen … doch – er zählte und rechnete ohne Elika. Die arme Kleine wurde immer trauriger, immer blasser. Frau Heideschmied, ihre begeisterte Verehrerin und unterthänige Sklavin, hörte sie des Nachts in ihrem Bette schluchzen. Sie sekundierte im stillen. Der Schmerz des Kindes war ihr Schmerz, Elikas geringste Verstimmung brachte sie um alle Freudigkeit, Elikas geringstes Unwohlsein schien ihr der Beginn einer schweren Krankheit, und sie beunruhigte mehr als einmal die Tanten mit der Versicherung:

Mesdames, elle se meurt!“

Es kam so weit, daß Charlotte zu ihr sagte: „Verzeihen Sie mir, liebe Frau Heideschmied, aber Ihre Aengstlichkeit übersteigt schon die Grenzen – des Unvernünftigen.“

Indessen machte der Trübsinn, in den Elika versank, als der Augenblick der Trennung von Leopold mehr und mehr heranrückte, dem ganzen Hause Kosel und allen, die zu ihm gehörten, große Sorge.

Die Kleine sprach nicht von dem bevorstehenden Abschied, man sah aber, daß sie an nichts anderes dachte. Sie bat ihren Bruder nicht ein einziges Mal, daß er ihr das Opfer bringen möge, dazubleiben; wenn sie aber mit ihm sprach, klang ein leiser Vorwurf aus ihrem Tone, und aus ihren Augen fluteten ihm solche Wogen des Leids entgegen, daß er es nicht aushielt, daß er sich vorkam wie ein Verbrecher, wie ein Schwestermörder, und nach schwerem Kampf mit sich selbst eines Morgens erklärte: „Ich hab’ es mir überlegt, ich bleibe. Das erste Jahr Jus kann ich am Ende auch in Velice durchmachen.“

Elika dankte nicht mit Worten, aber sie lebte wieder auf, sie entzückte ihre Brüder, erheiterte das ganze Haus mit ihrer lieben Munterkeit, die in alle Herzen eindrang wie mildes, lauteres Licht.

„Jetzt bist du wieder nett,“ sagte Leopold zu ihr, und sie antwortete: „Weil ich glücklich bin.“

„In einem Jahr geh’ ich aber doch,“ sprach er nach kurzer Ueberlegung mit Festigkeit.

„Ach was – in einem Jahr!“ – Er wußte wohl, was das heißen sollte: Geh’ du nur in einem Jahr! Mir thut’s dann nicht mehr weh. Ich bin dann nicht mehr da.

Sie sah oft danach aus, als ob sie in einem Jahr nicht mehr da sein sollte, und plötzlich, ohne sichtbare Veranlassung, war das blasse Alabastersäulchen in ein frisches rosiges Mädchen verwandelt, das von Lebenslust sprühte und, schwimmend und rudernd, reitend und pferdelenkend, mit ihren Brüdern wetteiferte an Geschicklichkeit und Kühnheit.

Im Gegensatz zu ihrer früheren Lernfaulheit war sie jetzt von einem fieberhaften Wissensdurst ergriffen. Sie hatte zu oft auf ihre Frage: Warum? die Antwort erhalten: Weil Gott es so eingerichtet hat, um nicht endlich zu der weiteren Frage: Warum hat Gott es so eingerichtet? zu gelangen.

Sie fühlte sich immer etwas beleidigt, wenn ihr erwidert wurde, darüber ließen sich höchstens Vermutungen anstellen, die aber selten das Rechte träfen. In die Absichten Gottes einzudringen, vermag kein menschlicher Verstand. Das glaubte sie einmal nicht! Tante Renate, die so fromm ist, der Herr Pfarrer, der ein Priester ist, werden doch die Absichten Gottes kennen. Sie wollen ihr nur nicht sagen, was sie wissen, sie finden sie noch zu jung, zu kindisch. Nun, wenn die Menschen ihr allerlei verheimlichen, und Versteckens mit ihr spielen, nimmt sie ihre Zuflucht zu Büchern. Bücher sind offenherzig, die braucht man nur aufzuschlagen und sie geben uns großmütig und freimütig ihren ganzen Reichtum.

Und jetzt war keines der Bücher ihrer Brüder mehr vor ihr sicher; sie studierte mit glühendem Eifer und eisernem Fleiße wochen- und manchmal sogar monatelang, aber – einmal das, einmal jenes, und Heideschmied prophezeite ihr:

„Ihr Wissen wird immer Stückwerk bleiben, Elika.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0360.jpg&oldid=- (Version vom 12.2.2021)