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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

jedem, dem er begegnete, zuzurufen: „Brief aus Australien, Brief vom jungen Herrn Joseph!“

Er zog mit einem Geleite Neugieriger zum Schlosse, Hanusch und der Wenzi vom Schullehrer folgten ihm sogar hinein. In der Halle trafen sie Elika und ihre Brüder Ball spielend und riefen alle zugleich: „Brief aus Australien! Brief vom Herrn Joseph!“

Leopold und Elika schrieen auf. Franz brachte nur einen heisern Laut hervor und wurde kreidebleich, wie damals bei der großen Rauferei. Doch schob er die Schwester ungeduldig fort, die voll Besorgnis fragte, was ihm sei. – Nichts war ihm, den Brief Josephs sehen wollte er, wissen, was drin stand. Wie ein Löwe stürzte er auf Kaspar los, entriß ihm die Posttasche und stürmte keuchend die Treppe hinauf zu seinem Vater.

„Da! da!“ brachte er wie ein halb Erstickter hervor und legte die Tasche vor Herrn von Kosel hin, der sich eben mit Ordnen von Zeitungen beschäftigte.

Nun kam auch Elika. Sie hatte Herrn Heideschmied, und Herr Heideschmied hatte seine Frau und diese hatte Apollonia gerufen. Leopold war in den Sibyllenturm gelaufen, um die Tanten herbeizuholen. Das Zimmer Kosels füllte sich und in dem Kopetzkys liefen die Hausleute zusammen, und auf dem Gange standen Kaspar und seine Gefolgschaft.

Hanusch schrie plötzlich: „Wenn er um mich schreibt, steig’ ich zu ihm hinauf auf die See!“ und machte einen Purzelbaum.

Charlotte las den Brief Josephs vor. Er lautete:
 „Lieber Vater! gute Tanten! Brüder! Elika!
 Alle, alle meine Lieben!

Wie geht es Euch? mir geht es gut. Ich habe viel zu thun und lauter Sachen, die ich gern thue. Ich meine immer, daß ich in Velice nicht gewußt habe, wie lieb ich Euch habe, und doch wünsche ich Euch nicht hierher, das Leben hier wäre nichts für Euch, aber für mich ist es das rechte.

Lieber Vater, verzeih mir meine Flucht und befiehl mir nicht, daß ich zurückkomme, schreibe mir, lieber Vater, daß Du es mir nicht befiehlst. Ich könnt’ ja nicht gehorchen.“

„Das Blut,“ sprach Kosel und Renate fiel klagend ein:

„Joseph! Joseph! So etwas sollte er nicht sagen, der geliebte Junge.“

Charlotte las weiter: „Ich kann nicht studieren, lieber Vater, lieber Herr Heideschmied, und wenn einer wie ich bin einmal sagt: Ich kann nicht, dann muß man es ihm glauben. Es ist auch ganz unvernünftig, von allen zu verlangen, daß sie sich hinsetzen und dasselbe lernen sollen. Es können auch nicht alle dasselbe essen. Dem einen schlagt das ...“

„Schlägt,“ berichtigte Herr Heideschmied. Charlotte ließ sich nicht unterbrechen.

„Dem andern jenes an, und nie gilt’s als Schande für den Magen, wenn er eine Speise nicht vertragt …“

„Verträgt,“ flüsterte Herr Heideschmied.

„Aber ein Gehirn haben, das andere Nahrung braucht als der Schulrat ihm vorschreibt, das ist eine Schande, und Schande vertrag’ ich nicht. Leichter noch die Trennung von zu Hause. So bin ich fort. Ich bin viel weiter als Sidney, kann aber noch nicht schreiben, wo ich bin, erst in ein paar Jahren sollt Ihr es erfahren.“

„In Jahren?“ – Renate unterdrückte einen Ausruf des Schmerzes, Thränen traten ihr in die Augen. Elika kam heran, drückte ihr Gesicht an das der Tante und sagte ihr ins Ohr:

„Wir haben ihn gut lieb, wir zwei!“

Am Schlusse seines Briefes bat Joseph alle, ihm den Kummer zu verzeihen, den er ihnen durch seine Flucht gemacht hatte, er bat sie, sich jetzt schon anf seine Rückkehr zu freuen, wenn er auch nicht viel gescheiter heimkommen werde als er gegangen sei, denn mit dem Lesen sähe es schlecht aus. „Gedrucktes kommt mir selten zu Gesicht, höchstens hier und da eine alte Zeitung . . .“

„Eine Zeitung?“ sagte Kosel, „die hätte er wohl schicken können. Es wird gewiß eine sein, die in Sidney erscheint,“ fuhr er nach reiflicher Ueberlegung fort, „und wahrscheinlich in englischer Sprache. Es wäre merkwürdig, wenn er schon englisch lesen könnte. Freilich, in Neusüdwales muß er es lernen, weil er sich sonst den Engländern nicht verständlich machen kann.“

Apollonia staunte: „Nein, daß der gnädige Herr das wußte. Ja, was der nicht wußte! Also englisch ist es dort, wo Joseph ist. Und ob es wohl so Häuser hat wie bei uns, das Sidney?“

„Viel größere, was denkst du denn, Poli,“ belehrte sie Leopold. „Sidney ist der größte Handelsplatz von ganz Australien und hat einen wundervollen Hafen, in den Tausende von Schiffen einlaufen, beinahe eine halbe Million Einwohner, eine Universität …“

„Die Joseph nicht beziehen wird,“ seufzte Heideschmied.

„Und giebt’s dort auch Kirchen?“ fragte Apollonia.

„Natürlich, und sogar einen anglikanischen Bischof.“

„Und einen katholischen Erzbischof,“ sagte Renate.

Ganz zuletzt sandte Joseph auch einen Gruß an Tante Luise. Er hatte noch ein paar Worte hinzugefügt, sie aber unleserlich gemacht.

Von seiner Lebensweise sprach er vorläufig nicht. Im nächsten Briefe sollte es geschehen.

Er wiederholte seine Bitte, ihn nicht zurückzurufen, weil er nicht gehorchen könnte. Nur eines möge Gott verhüten, man möge ihm nicht schreiben müssen: Elika ist krank und sehnt sich nach dir. Wenn es aber so wäre – will ich es wissen … Gott behüt’ uns davor, aber ich will es wissen …“

Elika verstand ihn wohl, es hieß: Wenn sie sich allzu sehr nach mir sehnt, krank wird aus Sehnsucht, dann komme ich zurück, so schwer es mir wird, komme ich …

Sie hatte die Macht, ihn zurückzurufen, es lag in ihrer Hand … Was niemand vermochte, vermochte sie. Wer mehr kann als andere, ist der schwach? … Zum erstenmal in ihrem Leben fragte sie sich: Bin ich denn wirklich eine arme Kleine?

Unter den vielen Briefen an Joseph, die am nächsten Tage unter der von ihm angegebenen Adresse eines Handlungshauses in Sidney auf die Post geschickt wurden, war auch einer von Luise und einer von Elika. Sie schrieb:
 „Lieber guter Joseph!

Den besten Dank sage ich Dir hiermit, Joseph, daß Du glücklich angekommen bist, und gesund bist und zufrieden, ich bin auch gesund und zufrieden. Wir denken immer an Dich und erzählen uns von Dir. Und ich meine immer, Du wirst ein großer Feldherr werden und die Engländer besiegen, und mich zu Dir rufen und wir geben den Negern ihr Land zurück, werden ihre Könige, gewöhnen ihnen das Menschenfressen ab und machen sie zu guten Menschen. Du wirst die kleinen Buben und ich werde die kleinen Mädchen erziehen. Franz aber glaubt, daß Du lieber Viehzucht treiben willst. Wir lesen immer von Australien und ich studiere mit den Brüdern, und Herr Heideschmied sagt: ‚Leopold und Franz unterrichte ich; Elika lernt.‘ O lieber lieber Joseph! bleib’ nur gesund und schreib’ uns oft und sehr viel. Wir werden Dir auch alles schreiben. Leider, lieber Joseph, hustet Deine arme Tacki, und ich muß Dich vorbereiten, daß Du sie kaum mehr am Leben finden wirst, wenn Du erst in einigen Jahren wiederkommst. Ich frage sie nicht mehr: Wo ist dein Herr, Tacki? Sie wird zu traurig davon. Die Kuh von Tante Luise hat ein schönes Kalb bekommen, das schreibt sie Dir aber selbst. Leopold ist mit dem Falben gestürzt. Gleich schreibst Du, wo Du bist, Nichtsnutziger! O, Joseph, ich hab’ Dich lieb, ich bet’ für Dich alle Abend mit Tante Renate in der Kapelle und in der Früh’ in meinem Bett. Ich bete auch immer, daß ich gesund bleibe und mich nicht zu stark nach Dir sehne.

Lieber guter Joseph!

mein ganzes Herz liegt auf diesem Blatt Papier,
ich siegel’s ein und schick’ es Dir.
 Deine Dich liebende Elika.“




Um diese Zeit war’s, daß Apollonia sich als Heldin zeigte. Sie machte Elika den Uebergang aus der Kinderstube ins Gouvernantendepartement so leicht als möglich. Langsam entwöhnte sie ihren Pflegling von all den kleinen Diensten, die sie ihm bisher geleistet hatte.

Sie zog sich unauffällig von ihm zurück und forderte die feinfühlige Frau Heideschmied bei jeder Gelegenheit selbst auf, ihre Stelle einzunehmen.

Die erste Nacht aber, in der Elika nicht mehr unter ihrer

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