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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Apollonia brachte die Kleine zu Bett, löschte die Lichter und stellte den Schirm vor die Nachtlampe. Die Studierstube nebenan war nur durch einen Vorhang von Elikas Schlafzimmer getrennt. Sie führte auf den breiten gewölbten Bogengang durch eine Doppelthür, die abends von innen verschlossen wurde. Kaum war das geschehen, kaum hatte Apollonia ihr Gemach betreten und dessen Thür hinter sich zugezogen, als Elika sich aufsetzte und lauschte. Jetzt legte die Wärterin ihre Kleider ab, jetzt wusch sie sich und jetzt murmelte sie ihr Abendgebet, und Elika wußte jede Bewegung auswendig, die sie dabei zu machen pflegte, lächelte und dachte: Ich seh’ mit meinen Ohren. Und jetzt endlich richtete Apollonia sich von ihren Knien auf und ging zur Ruhe. Der Lichtstreif, der unter dem Thürspalt sichtbar gewesen war, erlosch. Einige Augenblicke noch und sie wird ein ganz klein wenig schnarchen, ganz lieblich, und Elika wird sich zur Gangthür schleichen und sie öffnen und dann wird Joseph kommen und ihr ein großes Geheimnis sagen. Etwas von der Prüfung gewiß und daß er nicht mehr lernen will. Und was wird dann geschehen? Was wird er thun? Was hat er vor? … O nur das eine nicht! das könnte sie nicht ertragen, nicht überleben … Joseph! Sie erschrickt, sie hat den Namen fast laut ausgerufen. Hält den Atem an, horcht. Gottlob, Poli schnarcht weiter. Elika darf’s wagen. Sie steht auf, geht zur Thür, dreht den Schlüssel im Schloß und kriecht dann wieder in ihr Bett zurück.

Gleich darauf stand Joseph vor ihr. Unhörbar, in Socken war er gekommen, hatte seinen alten Lodenanzug angethan, trug seinen alten Lodenhut, einen Knotenstock und seine Schnürstiefeletten in der Hand, einen Rucksack auf dem Rücken. Das alles legte er sachte auf den Boden und sagte mit tief gedämpfter Stimme: „Sei ganz still, rühr’ dich nicht, daß Poli nicht erwacht. Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen. Ich gehe fort.“

So hatte sie richtig geahnt. Das Schlimmste, das ihr geschehen konnte, geschah. „Von mir fort? Mich verlassen? Was wird unsere Mutter im Himmel sagen, wenn du mich verläßt?“ fragte sie. Schmerzlich, vorwurfsvoll bohrte ihr Blick sich in den seinen.

Joseph nickte: „Von dir und von allen. Aber von dir nehm’ ich Abschied, weil ich Vertrauen zu dir hab’ und weil ich etwas von dir will. Dein Geld. Du bist reich. Wir haben nichts, die Brüder und ich. Gieb mir dein Geld.“

„Damit du von mir fortreisen kannst? Nein, ich geb’ dir nichts.“

„Gut, dann geh’ ich ohne Geld. Adieu. Ich bring’ mich auch so durch.“ Er stand auf, aber da umklammerte sie seinen Arm und flüsterte ihm zu:

„Nimm alles, ich geb’ dir alles, aber nimm mich mit.“

„Närrin,“ sprach er, „du bist ja eine Närrin. Ich gehe nach Hamburg auf ein Schiff. Ich gehe als Schiffsjunge nach Australien.“ Ich gehe zu meinem Freunde Bornholm, hatte er hinzusetzen wollen, unterdrückte es aber. Wozu brauchte sie das zu wissen? Auch sie hielt ja Levin für einen Missethäter.

Sie sah ihn groß und bewundernd an. Nicht der leiseste Zweifel stieg in ihr auf. Hätte sie gesagt: „Ich geh’ nach Australien,“ niemand, außer Poli, wäre erschrocken, und die wohl nur aus Gefälligkeit. Aber Joseph! Wenn er sagte: „Ich thu’s“, dann geschah’s. Nach Hamburg wollte er und auf ein Schiff – und nach Australien als Schiffsjunge. Ihr schwindelte und graute. Sie hatte eben die Geschichte eines armen, mißhandelten Schiffsjungen gelesen.

Joseph stand noch an ihrem Bette, sie hielt seinen Arm noch umklammert und preßte ihr Gesicht an seine Brust: „Du weißt nicht,“ sagte sie, „was ein Schiffsjunge ausstehen muß.“

„Weißt du, was ich hier ausstehn muß?“

„Alles wegen der dummen Prüfung.“

„Ja, die Prüfung! – und das andre, das ich nicht sagen kann – nicht dir und keinem – kaum mir selbst … Verstehst du? … Nein, nein, du kannst es nicht verstehn, du bist zu klein …“ Wie er litt! wie er rang, wie es in ihm kochte, während er ihr diese Worte zuraunte.

„Sag’, sag’! ich versteh’ alles,“ flüsterte sie. „Du schämst dich vor Tante Luise … Was hast du dich vor der zu schämen?“ Sie verzog verächtlich den Mund, im Ton ihrer Stimme lag der volle Haß der Eifersucht: „Vor der!“

Da stieß Joseph sie von sich, daß sie zurückfiel in die Kissen. „Adieu,“ murmelte er dumpf, wollte fortstürzen, besann sich aber und sagte schon halb abgewendet: „Wenn sie mich morgen suchen, weißt du nichts, sagst du nichts, kein Wort. Die Hand drauf.“ Er streckte ihr die Rechte entgegen. Sie faßte sie mit ihren beiden Händen.

„Ich sag’ kein Wort. Bleib’, bleib’ noch! nimm das Geld.“

„Willst du es mir denn geben?“

„Alles, alles geb’ ich dir!“

Er holte die kleine silberne Sparbüchse aus dem Glasschrank und mußte sie mit dem Messer aufsprengen, denn der Schlüssel befand sich in Polis Verwahrung.

Elika war wirklich sehr reich. Sie hatte zehnmal soviel Gulden als sie Jahre zählte. Joseph wollte nicht alles nehmen, er brauchte es nicht, ein zukünftiger Schiffsjunge fährt dritter Klasse. Aber seine Schwester zwang ihm das Ganze auf. Früher war sie reich gewesen, jetzt sollte er es sein.

Dann fingen sie an Abschied zu nehmen. Joseph empfahl ihr seinen alten Teckel und seinen Kanarienvogel und sagte: „’s ist Zeit, ich geh’.“ Er mußte die ganze Nacht durch marschieren, um am Morgen die große Kreuzungsstation zu erreichen. Auf einer kleinen Station in der Nähe durfte er sein Fahrbillet nicht lösen, da kannte man ihn, hätte Rechenschaft geben können von der Richtung, die er eingeschlagen hatte:

„’s ist Zeit,“ wiederholte er und wollte fort, aber Elika hielt ihn zurück mit ihren Fragen.

„Wenn du in Hamburg bist, was thust du dann?“

Ja, dann mußte er sich eben erkundigen, was zu thun sei, um als Schiffsjunge aufgenommen zu werden. Alles, was er wußte, war, daß man dazu in Hamburg keine Legitimation braucht, und daß von dort in nächster Zeit einige große Kauffahrer nach Australien segeln, wußte er auch. Vom Schiff aus versprach er, ein Telegramm ans Land zu schicken.

„An mich?“

„Nein, sonst merken sie, daß du etwas weißt. An Papa. Wenn das Telegramm ankommt, bin ich schon auf hoher See. Leb’ wohl, arme Kleine!“ Er wollte sich wieder in Socken davonschleichen, aber Elika versicherte ihn: „Wenn Poli so schnarcht wie jetzt, kannst du in Nagelschuhen tanzen, sie hört dich nicht.“

Joseph mußte sich wieder auf den Sessel setzen, sie stieg aus dem Bette, kniete vor ihm nieder und schnürte ihm die Stiefel zu, sorgfältig und rasch mit ihren dünnen geschickten Fingerchen. Und er ließ sich’s gefallen und tippte einigemal zärtlich auf ihren blonden Scheitel.

Sie war fertig, stand auf, betrachtete ihn voll Stolz und sprach: „Du bist mein großer Bruder.“

Auch er erhob sich, nahm seinen Rucksack und seinen Hut vom Boden auf und murmelte etwas, das wie ein abermaliges Lebewohl klang.

Die Thränen wollten Elika ersticken, doch sie weinte nicht. Wer einen so großen Bruder hat, weint nicht. Er hat einen Kummer, der ihn hinaustreibt in die Welt, auf die hohe See, in die Stürme, in Not und Tod, und weint nicht. Auch sie wollte nicht weinen. Dann aber durfte sie ihm nicht mehr die Hand geben, ihn nicht einmal mehr ansehen … Sie wich vor ihm zurück.

Am Himmel war ein fortwährendes Wetterleuchten und das Nebenzimmer, in das die Kinder traten, von fahlem, zuckendem Licht erhellt.

„Sperr’ ab hinter mir, vergiß nicht,“ sagte Joseph. Seine Sümme klang ungefähr so, wie wenn er mit Tante Luise sprach, und bevor Elika antworten konnte: „Ich werd’ doch nicht vergessen,“ war er fort.

Sie drehte mechanisch den Schlüssel im Schloß und stand da, barfüßig, in ihrem Hemdchen: „Ich werd’ – doch – nicht – ver – ges – sen –“ hauchte sie leise, unbewußt, mit zuckenden Lippen und starrte die Thür an, durch die Joseph verschwunden war. Und plötzlich überkam es sie mit Todesschrecken: Er ist fort, mit Todesschmerz. Und ich hab’ ihm nicht Lebewohl gesagt, ich hab’ ihm nichts gesagt, nicht einmal: Du hast mich immer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0330.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2021)