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sie im Vergleich zu der Chloroformierung den unschätzbaren Vorteil haben, jede Lebensgefahr zu vermeiden. Wird einmal das Schleichsche Verfahren dem Publikum bekannter und geläufiger geworden sein, als dies bis jetzt der Fall ist, so wird auch die noch hier und da auftretende Furcht vor dem Unbekannten wegfallen. Das Infiltrationsverfahren erfordert öfter zwar etwas mehr Zeit als die allgemeine Narkose, doch fallen dafür auch die nicht geringen Störungen und Nachwehen dieser weg; denn der Patient fühlt sich nach Beendigung der Operation sofort vollkommen wohl.

Die Erfindung dient auf die denkbar vollkommenste Weise der täglichen Praxis und erspart dadurch eine größere Summe von Schmerzen, als dies durch die allgemeine Narkose seither der Fall war, und dazu auch an Geld, weil sie ohne jede Assistenz von jedem Arzte ausgeführt werden kann. Der deutschen Wissenschaft aber gereicht sie zur Ehre, weil diese, die seither nur aufnehmend an der Erfindung und bessernd an der Kunst der Anästhesierung beteiligt war, jetzt zum erstenmal den Weg betreten hat, der sie auch in Bezug auf diese Humanitätssache zur Lehrerin der anderen Völker macht, deren Schülerin sie in derselben bisher nur gewesen ist.


Die Feuerprobe.

(Zu dem Bilde S. 320 und 321.)

Um die Gestalt Heinrichs II, der als römisch-deutscher Kaiser in den Jahren 1002 bis 1024 regierte, hat die Nachwelt einen Kranz von Legenden gewoben. Ein Teil derselben bezieht sich auch auf seine Gemahlin Kunigunde, die gleich ihm durch einen frommen Lebenswandel sich auszeichnete. Aus dem Schatz dieser sagenhaften Ueberlieferungen schöpfte der Ende vorigen Jahres verstorbene Maler Konrad Weigand, als er die packende Zeichnung schuf, welche sich auf den folgenden Seiten wiedergegeben findet.

Der Teufel beneidete Kunigunde um ihren guten Ruf und brachte sie am Hofe derart in schlimmen Verdacht, daß selbst Kaiser Heinrich II der üblen Nachrede Glauben schenkte und seine Gemahlin der Untreue beschuldigte. Um sich von diesem ungerechten Verdacht zu reinigen, wählte die Kaiserin das Ordal des glühenden Eisens. Nachdem sie inbrünstig zu Gott gebetet hatte, schritt sie barfuß über zwölf glühende Pflugscharen, ohne sich im geringsten zu verletzen. Angesichts dieses Wunders fiel der Kaiser vor seiner Gemahlin auf die Kniee und leistete ihr feierlich Abbitte. Zu Bamberg, wo Kaiser Heinrich II im Jahre 1007 das später berühmt gewordene Bistum gründete und in dessen Dome sich sein und seiner Gemahlin Grabmal befindet, soll sich jenes Gottesurteil ereignet haben.

Das Weigandsche Bild zeigt uns den Beginn der ernsten Handlung. Eine treue Dienerin der Verdächtigen fleht vergebens den Kaiser um Gnade an; er ist nicht gesonnen, der Beschuldigten die schwere Prüfung zu erlassen. Während die glühenden Eisen bereits nebeneinander gelegt werden, betet Kunigunde, von der Geistlichkeit umringt, zum Himmel, daß er sie beschützen und ihre Unschuld erweisen möge. Wie die neuere Geschichtsforschung nachwies, entstand jene Legende im zwölften Jahrhundert. Wenn aber auch der Vorgang geschichtlich nicht verbürgt ist, so hat das Weigandsche Bild doch einen hohen kulturgeschichtlichen Wert. Es gewährt uns in seiner packenden Wirkung einen tiefen Einblick in die eigenartige Rechtspflege des Mittelalters.

Die Sitte, in schwierigen unklaren Rechtsverhandlungen die Gottheit selbst anzurufen, damit sie durch Zeichen oder Wunder über Schuld und Unschuld entscheide, ist uralt. Wir finden sie noch heute bei vielen Naturvölkern vor, und sie war auch bei allen arischen Völkern üblich. Als nun die Heiden in Europa zum Christentum bekehrt wurden, konnten diese alten Gewohnheiten der Rechtspflege nicht ohne weiteres beseitigt werden. Die Kirche und die weltlichen Behörden suchten jedoch den heidnischen Brauch nach Möglichkeit einzuschränken. Diese Gottesurteile oder Ordalien, wie man sie nach dem angelsächsischen Worte ordal (Urteil) nannte, durften nur dann als äußerstes Beweismittel zur Feststellung der Wahrheit stattfinden, wenn die üblichen Gerichtsverfahren versagten und namentlich der Eid und die Stellung von Eideshelfern nicht genügten. Außerdem wurde ihre Leitung in die Hände der Geistlichkeit gelegt.

Bei den germanischen Völkern wendete man verschiedene Arten der Ordalien an. Die verbreitetste war das Kampfurteil oder der Zweikampf, bei dem es schwächlichen Personen, den Weibern, den Geistlichen und Leuten vornehmen Standes erlaubt war, als Stellvertreter andere, sogar bezahlte Kämpfer vorzuschieben.

Galt es bei einer Mordthat, den Thäter zu ermitteln, so wurde das Bahrrecht angewandt. Der Beschuldigte mußte an die Bahre treten, auf die man den Ermordeten gelegt hatte, und die Wunden mit der Hand berühren. Fingen diese an zu bluten oder zu zittern, oder veränderte sich die Gesichtsfarbe des Toten, dann war der Angeklagte der Schuld überführt.

Ein weiteres Ordal war die Probe des geheiligten Bissens. Man gab dem Beschuldigten einen vorher gesegneten Bissen Brot, damit er ihn verschlucke. Vermochte er es nicht zu thun, dann war seine Schuld erwiesen. Daher soll das Sprichwort „Daß mir das Brot im Halse stecken bleibe!“ stammen.

Das Kreuzurteil, bei welchem die streitenden Parteien mit aufgehobenen Händen an einem Kreuze stehen mußten und das denjenigen schuldig erklärte, der zuerst die Hände sinken ließ, war nur kurze Zeit gebräuchlich: es wurde durch Ludwig den Frommen bereits im Jahre 826 verboten.

Am berühmtesten von allen Ordalien sind aber im Laufe der Zeit die Wasserprobe und die Feuerprobe geworden. Die erstere wurde in zweifacher Art geübt. Zunächst gab es die Probe mit kaltem Wasser. Dabei wurde der Angeklagte an einem Strick ins Wasser geworfen: sank er nach unten, so galt dies als Zeichen seiner Unschuld, schwamm er oben drauf, so sprach dies für seine Schuld. Bei der zweiten Abart dieses Gottesurteils, der Probe mit heißem Wasser, mußte der Beschuldigte, falls er sich vom Verdacht reinigen wollte, einen Ring oder Stein aus einem mit siedenden Wasser gefüllten Kessel mit bloßem Arm unverletzt hervorholen.

Dieses Ordal bildet gewissermaßen den Uebergang zu der Feuerprobe, die wiederum in mehreren Abarten angewandt wurde. Der Angeklagte konnte seine Unschuld dadurch erweisen, daß er seine Hand eine genau bestimmte Zeit lang in das Feuer hielt und sie unverletzt zurückzog, oder es wurde von ihm verlangt, daß er, nur mit einem Wachshemde bekleidet, unversehrt durch einen brennenden Holzstoß schritt. Schließlich gab es noch zwei Proben des heißen Eisens; bei der einen mußte der Beschuldigte ein glühendes Eisen von bestimmtem Gewicht eine genau vorgeschriebene Strecke, z. B. neun Schritte, weit tragen, bei der andern barfuß über 6, 9 oder 12 glühende Pflugscharen gehen.

Die Gerichte des Mittelalters müssen mit den Ordalien keine guten Erfahrungen gemacht haben, denn dieselben wurden nach und nach aufgehoben und verschwanden im 14.Jahrhundert fast gänzlich aus der Gerichtspflege. Erst in der trüben Zeit der Hexenprozesse wurden einige derselben, namentlich die kalte Wasserprobe, aus der Rumpelkammer abergläubischer Rechtsmittel hervorgeholt.

Bemerkenswert ist es nun, daß im „Hexenhammer“, der im Jahre 1489 herausgegebenen Anleitung zum henkermäßigen Verhören und Ueberführen der Hexen, den Richtern die Anwendung der Probe des glühenden Eisens und des kochenden Wassers widerraten wird. Denn schon durch natürliche Mittel, Kräutersäfte und dergl., könne das glühende Eisen unschädlich gemacht werden; der Teufel vermöge aber solches noch viel eher zu vollbringen. So wurde im Jahre 1483 im Territorium der Grafen von Fürstenberg eine Hexe verhaftet. Es gelang nicht, ihr durch die Folter ein Geständnis zu erpressen, und nun erbot sie sich, ihre Unschuld durch die Probe des glühenden Eisens zu erweisen. Der junge Graf war in solchen Dingen nicht erfahren, und er gab der Hexe auf, das glühende Eisen drei Schritte weit zu tragen; doch diese trug es sechs Schritte weit und erbot sich zur Wiederholung des Ordals. Erfreulicherweise wurde die vermeintliche Hexe auf freien Fuß gesetzt. Vor Richtern, die auf die Ratschläge des „Hexenhammers“ achteten, wäre es ihr schlecht ergangen, denn darin hieß es: „Verlangt eine Hexe die Probe des

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0319.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2024)