Seite:Die Gartenlaube (1898) 0318.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

allgemeine Narkose ganz umgehen könne. Der weltberühmte Helmholtz schrieb einst an den englischen Arzt Tait, daß es bei einer Erfindung schwieriger sei, den richtigen Gedanken zu finden, als nachher die nötigen Experimente zu machen; der erste sei die Hauptsache, die letzteren nur die auch von andern anzustellende Probe auf dessen Richtigkeit. Auch Schleich suchte und fand zunächst nur den richtigen Gedanken und stellte demgemäß den Satz auf, daß jede salzartige Lösung von einer bestimmten, erst näher festzustellenden Stärke (Konzentration) die Eigenschaft haben müsse, die örtliche Schmerzempfindung zu verändern, sie entweder zu steigern oder herabzusetzen. Die praktische Aufgabe war dann aber, diesen Satz auch durch Versuche oder, was dasselbe ist, durch direkte Fragen an die lebenden Nerven in Form von Experimenten zu prüfen und zu beweisen. Hauptsächlich waren die niedersten Stärkegrade zu finden, bei welchen Salzlösungen noch schmerzstillende Wirkungen ausüben. Die dazu notwendigen Versuche machte Schleich nunmehr aber nicht, wie gebräuchlich, an vom Menschen abweichenden Tierorganismen, sondern an sich selbst, zum Teil unter eigner Gefährdung. Dabei gelangte er zu der überraschenden Entdeckung, daß selbst einfaches Wasser, ebenso eine schwache Lösung von 2 Gramm Kochsalz auf 1 Liter (1000 Gramm) Wasser, dann eine Lösung von Kokain oder Morphium von noch viel geringerer Stärke, z. B. von einem Gramm Kokain auf 10 Liter Wasser, nach Ueberwindung des ersten schmerzhaften Einstichs die Schmerzempfindung in der Umgebung der Einspritzungsstelle aufhebe. Um diese Wirkung zu erzielen, war es aber nötig, daß die betreffende Lösung, auf niedere Temperatur, am besten auf 0°C, abgekühlt, in die Haut – nicht unter dieselbe – oder in ein anderes Körpergewebe derart eingespritzt wurde, daß die betreffende Stelle mit der Flüssigkeit durchtränkt (infiltriert) ward, also anschwoll (ödematös wurde).

Das war das Ei des Kolumbus in Bezug auf die örtliche Schmerzabtötung vor chirurgischen Operationen, zunächst für die bei weitem zahlreichsten, die kleinen, in der Folge aber auch für die großen, sogar bis zu den größten Operationen; denn die Schmerzlosigkeit der Teile war etwa eine halbe Stunde lang vollkommen, ohne daß das allgemeine Bewußtsein, wie bei Chloroformierung etc., im geringsten gestört ward und, was das wichtigste ist, ohne jede Gefährdung des Lebens. Sein Verfahren nannte Schleich „Infiltrationsanästhesie“, weil die Schmerzlosigkeit wesentlich auf dem Wege der Durchtränkung der Gewebe und der Umspülung der Nerven mit einer Salzlösung zustande kommt. Im Verfolg der Versuche machte er auch die Hautstelle, an welcher der erste Einstich der Nadel geschehen sollte, unempfindlich, indem er sie mit feinst verteiltem Aethernebel bestäubte.

Für die Praxis stellte Schleich drei Stärkegrade der Lösung her; die stärkste enthält als Grundlage in 1 Liter Wasser 2 Gramm Kochsalz, was auch für alle andern gilt, aber auch gleich viel Kokain und 25 Decimilligramm Morphium, so daß, selbst wenn man von dieser namentlich bei entzündeten Teilen zu verwendenden stärksten Lösung 25 Gramm verbraucht, nur erst die kleine Menge von Kokain erreicht wird, welche gesetzlich als unschädlich zugelassen ist. Bei Anwendung der mittleren wird dagegen bloß die halbe und bei solcher der schwächsten gar nur eine fast homöopathische Kokaingabe verbraucht: die letztere enthält ja auf 10 Liter schwacher Kochsalzlösung nur 1 Gramm Kokain. Auch diese bewirkt noch Unempfindlichkeit, so daß dieser Arzneistoff nur eine sehr untergeordnete Hilfs- und die Durchtränkung des Gewebes sicher die Hauptwirkung haben muß. Als „Normallösung“ gilt die von mittlerer Stärke.[1]

Die praktische Durchführung des Verfahrens verlangt natürlich, wie jede andere medizinische Maßregel, eine gewisse gereifte Erfahrung. Sie gelingt also nicht ohne weiteres jedermann. Und selbst dem Geübtesten und Erfahrensten versagt sie manchmal, wie jede andere medizinische Hilfe; doch wird die Zahl der nicht befriedigenden Fälle immer geringer – das gestehen so ziemlich alle zu – je geübter und erfahrener in der Auswahl der Lösungsstärke und Krankheitsfälle der Operateur geworden ist. In der Regel verursacht die richtig ausgeführte Einspritzung gar keine Empfindung, in manchen Fällen ein leises Brennen, in einzelnen jedoch stärkere Schmerzen; das letztere ist aber bei Geübten zum Glück eine Ausnahme und kommt hauptsächlich bei entzündlichen Leiden vor.

Außer einem Aetherzerstäuber zur Schmerzlosmachung des ersten Einstichs genügt eine Nadelspritze von der Art, wie sie von den Morphiumeinspritzungen her bekannt ist, die aber etwas größer ist als bei letzteren. Bei nicht sehr empfindlichen Patienten ist jedoch die Aetherzerstäubung ebenso unnötig wie bei den Morphiumeinspritzungen, der Schmerz des ersten Einstichs ist ja so unbedeutend wie bei diesen, ebenso die nachfolgende Empfindung während der Einspritzung. Die Assistenz eines anderen Arztes oder Gehilfen ist ganz entbehrlich. Die Spritze sowohl wie die einzuspritzende Lösung müssen natürlich desinfiziert sein.

Um das einfache Verfahren möglichst deutlich zu machen, wollen wir einen Fall aus dem Leben zu Hilfe nehmen.

Eine Kranke leidet an jener schmerzhaften Entzündung eines Fingers, die man als „Umlauf“ bezeichnet, zu dessen rascher Heilung ein tiefer Einschnitt nötig ist, der bisher oft vom Patienten nicht gestattet wurde, weil er noch mehr Schmerzen in Aussicht stellte. Man machte ihn ja fast ausnahmslos ohne Schmerzbetäubung, weil die Chloroformierung im Verhältnis zu der kurzen und kleinen Operation zu bedenklich war. Der neuen deutschen Anästhesierungsweise dagegen ist es zu danken, daß diese wie zahlreiche andere sogenannte kleine, aber doch oft sehr schmerzhafte Operationen jetzt schmerzlos und ohne Gefahr ausgeführt werden können. In unserem Falle geschah dies, während die Patientin mit abgewandtem Gesicht sich lebhaft unterhielt. Die Ausführung gestaltete sich folgendermaßen: ohne vorhergegangene Bestäubung der ersten Einstichsstelle mit Aether – den kleinen Stichschmerz übersah die Patientin infolge ihrer Unterhaltung – wurde kurz hintereinander rund um den Finger herum in der Nähe der entzündeten Stelle die notwendige Zahl Einspritzungen der oben beschriebenen starken Lösung gemacht. Das geschah in der Art, daß der folgende Einstich stets, wie es Regel ist, in den durch die vorhergehende Einspritzung schon schmerzlos gewordenen Teil der Haut fiel. Nach Beendigung der Einspritzungen ward dann rasch und tief eingeschnitten. Von alledem war der Kranken nichts zum Bewußtsein gekommen, so daß sie sogar an den Arzt die Frage richtete, ob denn nicht mit der Operation bald begonnen werde, und sehr erstaunt war, als sie nunmehr erfuhr, daß alles schon zu Ende sei, noch mehr, als sie aufgefordert wurde, jetzt einmal anzusehen, was inzwischen geschehen war.

Aehnlich verhält sich die Sache bei allen jenen in der täglichen Praxis so überaus zahlreichen kleinen Operationen, welche die großen Hospitaloperationen, wie wir sie hier nennen wollen, sicher um das Achtzigfache an Zahl übertreffen. Gerade bei solchen zeigt es sich am deutlichsten, ein wie großer Fortschritt der Humanität in der Krankenbehandlung der Gesamtheit aus der Schleichschen Erfindung erwachsen ist. Im Vergleich zu diesen Anästhesierungen bilden ja die bei großen Operationen notwendigen Chloroformierungen sozusagen die Ausnahme. Und da die letzteren hauptsächlich der Praxis der berühmten Chirurgen zufallen, erklärt es sich auch, daß bis jetzt die Schleichsche Methode gerade von seiten der akademischen Chirurgen viel weniger als von den gewöhnlichen Praktikern geprüft worden ist. Immerhin ist sie in vielen Hunderten, ja Tausenden von Fällen schon erprobt worden, namentlich auch im Auslande, speciell in Amerika. Aber auch bei großen Operationen hat sie nicht weniger die Probe bestanden, z. B. bei Entfernung von Geschwülsten aus der Uuterleibshöhle, bei Bruchoperationen, Knochenoperationen, Amputationen von Gliedmaßen etc.

Manchem Leser dürfte der Gedanke kommen, daß gerade die Erhaltung des Bewußtseins eine Schwierigkeit, ja einen Nachteil der Schleichschen Anästhesierung bilde. Dem gegenüber kann aber zum Glück die Erfahrung angeführt werden, daß in all den vielen Fällen, die bis jetzt ausgeführt wurden – leider fehlt eine genaue Statistik noch –, dies nicht zugetroffen ist. Bei richtigem Vertrauen des Patienten zu seinem Arzte genügt gewöhnlich schon die Versicherung, daß alles schmerzlos verlaufen werde, um jede Angst zu beseitigen, selbst bei Frauen und Kindern. Es bleibt ja auch jedem, der nicht zusehen will, wie er operiert wird, unbenommen, sich die Augen zu verdecken oder fest verbinden zu lassen. Der richtige Takt und Ernst des Arztes aber wird es verhüten, daß während der Operation über diese gesprochen wird. Und selbst manche Ueberängstliche werden sicher durch die Erklärung beruhigt, daß

  1. S. „Schmerzlose Operationen. Oertliche Betäubung mit indifferenten Flüssigkeiten etc.“ von Dr. C. L. Schleich. 3. Anfl. 1897.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0318.jpg&oldid=- (Version vom 2.12.2020)