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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Vor allem müssen Sie das Lernen erlernen,“ sagte der Alte und gab ihm alle mögliche Anleitung und die besten Ratschläge und Elika bekräftigte:

„Ja, so mußt du’s machen.“ Sie blieb bei ihm als Polizei und als Trösterin und wenn er von seinem Buche aufblickte und durchs Fenster sah, hielt sie ihm ihre Hände vor die Augen, küßte ihn und flehte ihn an: „Ach, Joseph, schau’ nicht!“

Manchmal wurde er sogar gegen sie ungeduldig und stieß sie weg. Ach, brennend sehnte er sich ins Freie! Was verstand sie, ein Mädchen, eine arme Kleine, von dem, was in ihm vorging? Sie ahnte nicht, wie es ihn hinauszog, immer! immer! Zur Sommerszeit, wenn alles wächst und atmet, sich in wehender, würziger Luft, im sonnigen Lichte des Lebens freut, und in den Stürmen des Herbstes bei fallendem Laub, und im Winter, bei wirbelndem Schnee, immer! immer! Nie so sehr aber, als eben jetzt im rauhen, kernigen Vorfrühling seiner Heimat, der so herb scheint und so voll Wonne und Süße ist, so wenig verspricht und so viel hält … Ins Freie! Draußen im Freien, ob im Genuß der Natur, ob im Kampf mit ihr, war er ein König gewesen, im Gefühl seiner Jugend, seiner Kraft und Selbstherrlichkeit. Und jetzt fühlte er sich als Knecht im Frondienst, als Zugtier, eingespannt in ein verabscheutes Joch. Vor Büchern hockend, deren tote Buchstaben ihm nie und nie lebendig werden wollten!

Nein, sie konnte sich keinen Begriff von dem machen, was er litt, und sollte auch nicht! Er wollte sie ja davor bewahren, etwas Schreckliches kennenzulernen in ihrem kurzen Leben. Wenn sie ihn gar zu kummervoll ansah, auf seine gefurchte Stirn deutete und auf seine zusammengezogenen Brauen und traurig sagte: „Solche Falten! solche Falten!“, schlug er ein wildes Lachen auf.

„Am End’ auch graue Haare? Pfui! … Marsch und marsch und marsch!“ Und er schleuderte seine Bücher in die Ecken, gegen die Decke und das letzte auf den Boden und hüpfte mit einem Fuße so geschickt, so schnell, so unablässig drüber hin und her und lachte dazu so toll, daß die Kleine mitlachen mußte.

Sein Verhältnis zu Heideschmied hatte sich plötzlich geändert. Alle Hausleute bemerkten die Wandlung und freuten sich ihrer. Der gute, bescheidene Hofmeister, der einen so schweren Stand hatte mit den jungen Herren, war eine beim Hofstaate sehr beliebte Persönlichkeit und erfreute sich sogar der schwer zu erringenden Gunst Frau Apollonia Budiks. Die Tanten verehrten ihn geradezu und es war für sie ein schwerer Schlag, als Joseph ihnen, am Morgen nach seiner Unterredung mit dem Erzieher, seine Vermutung mitteilte, daß „der alte Heideschmied“ noch kein Honorar bekommen habe.

„Wär’s möglich? könnte Felix so etwas vergessen?“ fragte Renate, als Joseph das Zimmer verlassen hatte. Charlotte geriet gleich wieder in eines jener Extreme, in die sie so leicht verfiel, und erwiderte mit schmerzlicher Härte: „Du solltest lieber fragen: Wär’s möglich, daß er nicht vergessen hätte? Woran denkt denn der? … Aber wir, Renate, wir zwei, daß wir uns nicht gedacht haben, daß er an nichts denkt! Daß wir ihn nicht erinnert haben! Es ist eine Schande für uns, für die ganze Familie und läßt sich nie wegputzen! bleibt auf uns sitzen.“ Sie rang die Hände: „Diesem Manne gegenüber! dieser in Menschengestalt unter uns wandelnden Delikatesse! Heute noch wüßten wir nichts und hätten nie etwas davon erfahren, wenn Joseph nicht gescheiter als wir – es erraten hätte!“

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Mit flammenden Wangen erschien sie vor ihrem Neffen und fand ihn vertieft in eine Zeitungsanzeige. Ach diese Zeitungen! er verschlang nicht sie, er las ja wenig, sie verschlangen ihn. Alle acht Tage abonnierte er auf eine neue und gab die alten nie auf, ordnete sie, verwendete unendliche Zeit, um nach einer fehlenden oder auf einen ungewohnten Platz geratenen Nummer zu suchen.

„Ich störe dich,“ sagte die Tante mit einem Anflug von Ironie, „das macht aber nichts, denn es handelt sich um etwas Wichtiges.“

Er sah sie freundlich und ganz abwesend an und sprach: „Ich bitte dich, setz’ dich.“

Sie hatte Mühe, einen zeitungsfreien Sessel zu finden, aber endlich gelang’s und Kosel pflanzte sich vor sie hin, ein Postpaket mit amerikanischen Stempeln in der Hand.

„Es ist merkwürdig, was jetzt geleistet wird,“ begann er. „Das ist die ‚Union‘. In Washington erscheint sie und hat eine Viertelmillion Abonnenten. Eine Viertelmillion. Denk nur – das Papier!“

„Viel, erstaunlich viel Papier … Was ich dir sagen wollte, Lieber, du hast doch mit Heideschmied die Gehaltsangelegenheit besprochen? Bei seinem Eintritt ins Haus, nicht wahr? Hundert Gulden monatlich verlangte der Schuldirektor in seinem Namen. Wenig Geld für eine große Leistung: unsere drei Löwen bändigen und abrichten! Nun ist Heideschmied schon länger als ein halbes Jahr im Hause. Du entrichtest sein Honorar doch pünktlich, Lieber?“

Er schien aufmerksam zugehört zu haben, Charlotte war gerührt und bereute schon ihren entwürdigenden Verdacht.

Ihr Neffe blickte sie noch freundlicher an als früher und sagte: „Diese Papiermühlen in Amerika. Ja, was das für Mühlen sind, was die leisten! Wir könnten das nicht, wir sind weit zurück.“

Sie wurde gleich wieder böse. Er hatte ihr gar nicht zugehört, seine Gedanken waren in den amerikanischen Papiermühlen. „Weit zurück, jawohl! im Rückstand, das bist du, mit dem Honorar des guten Heideschmied, und das ist äußerst sträflich, es ist eine Pflichtvergessenheit –“ … Sie hielt inne, sie fürchtete, ihm weh gethan zu haben.

Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen und schien sie doch nicht zu sehen. Seine Miene hatte etwas Visionäres, von innen heraus Leuchtendes. Ein Forscher, dem eben die Lösung eines schwierigen Problems eingefallen ist, mag sich so ausnehmen. „Zurück, ja, weit zurück sind wir. Wir können es nicht herstellen. Das kommt vom Wasser.“

Charlotte entfloh. Sie wollte sich nicht über ihn ärgern. Er war schließlich doch sehr bedauernswert und hatte nichts als sein unfruchtbares Spintisieren. Man lasse ihn dabei, störe seine Kreise nicht.

„Heideschmied hat noch keinen Heller bekommen!“ rief sie, in den Sibyllenturm zurückgekehrt, ihrer Schwester zu, „und bekommt keinen, wenn er wartet, bis Felix es sich zum Bewußtsein bringt, daß man Hofmeister zu besolden pflegt. Da müssen wir eintreten, bestes Herz, müssen diesen Sprung in der Ehre des Hauses verkitten.“

„Aber wie, liebes Herz?“

Wenn die Schwestern sich in Bedrängnis befanden, gebrauchten sie gegeneinander zärtliche Ausdrücke.

„Ich glaube, so. Ich überreiche Heideschmied in Felix’ Namen die rückständige Besoldung und sage ihm: Mein Neffe übersendet Ihnen dieses erste Mal Ihr Honorar halbjährlich, wird es Ihnen aber von nun an monatlich zustellen lassen, wenn es Ihnen paßt?“

„Eine Lüge?“

„Eine Notlüge; dann – es geht nicht anders! – nimmst du Heideschmied in die Küchenrechnung.“

– „Charlotte, welcher Einfall! … Unmöglich. Soll ich ihn einschalten zwischen dem Fleischer und dem Gewürzkrämer, oder wo?“

„Das braucht nicht zu sein. Setz’ ihn obenan.“

So trat der mäßigste Mann im Hause an die Spitze der Küchenrechnung.

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Das Leben ging gleichmäßig hin. Zwei Jahre nachdem Heideschmied sein schwieriges Amt angetreten hatte, unternahm er ein Wagnis. Er fuhr mit seinen Zöglingen nach der Kreisstadt, wo Franz in der Volksschule aus der vierten, Joseph und Leopold auf dem Gymnasium aus der zweiten Klasse Prüfung ablegten, Franz und Leopold bestanden schlecht und recht. Joseph fiel durch.

Bald darauf wurde Familienrat gehalten und beschlossen, zum Beginn des nächsten Schuljahrs nach Wien zu ziehen. Herrn von Kosel würde einige Zerstreuung gut thun, den Knaben das Studieren in öffentlichen Schulen leichter und lieber sein als das Studieren zu Hause. Und für Elika, die in letzter Zeit um

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0296.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2020)