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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Verheiratet sind Sie auch?“ rief Joseph mit ernstem Bedauern.

„Gott sei Lob und Dank! Glücklich verheiratet, durch die heiligste Pflicht unauflöslich mit dem Liebsten, das man hat, verbunden …“

„Schön verbunden! …. Sie sind ja weggegangen von Ihrer Frau.“

„Nicht gern. Aber – was sein muß, muß sein. Ein so einfaches Wort! und enthält die Fülle der Weisheit und macht stark … Meine Frau schenkte mir ein Kindchen und mit ihm ein neues, fremdartiges Glück. Die Kinder, die ich viele Jahre hindurch leitete, sahen in mir ihren Feind und haßten mich. Dieses kleine Geschöpf liebte mich. Ich war ganz erstaunt, wenn es bei meinem wahrlich nicht anmutigen Anblick lächelte, mir die Arme entgegenstreckte, wie damals Elika auf dem Turnplatz … ihr sah unser Kindlein ähnlich … ich wage kaum es auszusprechen, das Kind des Alters und der Dürftigkeit dem Kind eines blühenden Elternpaares …“

„Es ist gestorben,“ fiel Joseph ein, – „hat Elika ähnlich gesehn und ist gestorben …“

„Ganz jäh, ganz unerwartet. Der Arzt sagte, ihn überrasche es nicht. Wir hatten unsre kleine Milli für gesund gehalten und von einem sorgenfreieren Leben, als das unsre war, für sie geträumt. – Bald nachdem sie uns genommen wurde, klopfte eine alte Bekannte wieder bei uns an – die Armut. Die Familie, der wir unsre Dienste gewidmet hatten, erlitt große Verluste, alle Zahlungen wurden eingestellt. Ich konnte mich schwer entschließen, es meiner Frau mitzuteilen, und erschrak über die Kaltblütigkeit, mit der sie die Nachricht aufnahm.

‚Sollen wir wieder von vorn anfangen?‘ sagte sie, ‚wir waren am Ziel angelangt und sind müde Leute.‘

Ich verstand sie, wußte aber auch, daß meine tapfere Frau die schwächliche Regung, die ihr da gekommen war, in der nächsten Stunde bereuen würde.

So stellte ich ihr vor, daß das, was wir für ein Ziel gehalten hatten, nur eine Etappe gewesen war, auf der ein barmherziges Schicksal uns gegönnt hatte, zu rasten, bevor wir unsre Wanderung fortsetzten. Sie fügte sich. Die Erlaubnis, mich Herrn von Kosel vorzustellen, traf ein. Wir gingen vor meiner Abreise noch einmal an das Grab unseres Kindes, versprachen einander dort, daß wir ausharren wollen in unserm Kampf um eine bescheidene Häuslichkeit, und nahmen Abschied.“

Heideschmied richtete die kleinen, matten und doch scharfsichtigen Augen mit festem Blick auf Joseph: „Glauben Sie noch, daß Sie mich hindern werden, diesen Kampf zu bestehen?“

Joseph brummte etwas Unverständliches.

„Sie glauben es nicht. Sie wissen jetzt, daß Sie einem Gepanzerten gegenüberstehen. Ich bin nicht zu besiegen, weil meine Zuversicht unbesiegbar ist, daß alles noch gut werden muß. Ich halte aus, und meine liebe, brave Frau hat ihre Thätigkeit auch wieder aufgenommen.“

„Was thut sie?“

„Sie giebt Lektionen. War so glücklich, schon zwei zu finden. Dreimal wöchentlich jede, und die eine wird mit einem Mittagsessen, die andre mit einem Nachmittagskaffee honoriert. Es hat sich gefügt, daß beide auf denselben Tag fallen. Das macht wohl meinen Mangel an Appetit erklärlich, den Ihre verehrten und gütigen Tanten oft beklagen. Ich kann nicht essen am Hungertag meiner Frau.“

„Schicken Sie ihr denn nichts?“ fragte Joseph und der Alte erwiderte ausweichend, er habe noch nicht Gelegenheit dazu gehabt.

„Wie kann das sein … Haben Sie denn noch nichts … noch keinen …“ Er kam nicht weiter. Das Wort „Lohn“ wollte er nicht aussprechen und ein andres fiel ihm nicht gleich ein. Dagegen besann er sich, noch nicht die kleinste Münze in den Händen Heideschmieds gesehen zu haben, und besann sich auch der Klagen einiger Hausleute über die Unpünktlichst, mit der ihre Gehalte ausbezahlt wurden. – Herr v. Kosel sei gar so zerstreut. – – –

„Der Papa ist so zerstreut,“ sagte er laut, „man muß den Papa mahnen – haben Sie ihn nicht gemahnt?“

„Doch, doch! … mit schuldiger Rücksicht. Zudringlichkeit liegt außerhalb meiner Machtsphäre. Auch giebt es oder könnte doch Häuser geben, in denen der Erzieher ein Jahresgehalt bezieht …“

„Ach nein – ach, der Papa!“ Die Röte brennender Scham stieg Joseph ins Gesicht. „Man muß ihn mahnen,“ wiederholte er, und nun geriet der Hofmeister in Bestürzung:

„Lassen Sie das, ich bitte Sie! Ich komme zu dem Meinigen, bin ganz unbesorgt … Wenn ich noch nichts erhalten habe, habe ich auch noch nichts verdient. Noch keinen Erfolg zu verzeichnen, doch bleibt er nicht aus … Wenn alles so sicher wäre! Sie kommen mir vor, Joseph, wie ein edles Instrument, das bisher nur Mißtöne von sich gab, weil meine ungelenke Hand nicht versteht, es zu behandeln. Trifft sie’s aber einmal, schlägt sie die richtige Taste an – ich weiß, dann giebt es einen schönen Klang.“ Er stand auf und Joseph folgte seinem Beispiel.

„Gute Nacht, Joseph.“

„Gute Nacht, Herr Heideschmied.“ Ein letztes Widerstreben gegen ein warmes, liebevolles Gefühl, dann ein völliges Unterliegen. Er stürzte auf Heideschmied zu und fiel ihm um den Hals.

„Sie sind ein nobler alter Mensch!“ sagte er, wendete sich und ging mit großen nachdrücklichen Schritten aus dem Zimmer.

Noch nicht zur Ruh, noch nicht zu diesen Kindern – den Brüdern. In den Garten, in die kalte Novembernacht!

Die freie Luft blies sehr bald kühlend über seine spontane Begeisterung hinweg.

Joseph mußte sich schadlos halten für die Weichheit, die ihn einen Augenblick überkommen hatte, und vertraute den entlaubten Bäumen, den grauen Wolken und den matt glitzernden Sternen:

– „Nicht mahnen … ein alter Esel ist er doch!“




Das war ein stolzer Tag, an dem Leopold entdeckte, daß Elika lesen könne. Fast ganz allein hatte sie es gelernt mit Hilfe des alten, außer Gebrauch gesetzten Lesespiels ihres Bruders Franz. Ueberraschend schnell drang sie auch in die Geheimnisse der Schreibkunst ein, und man kam um einen Genuß, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Es war ergötzlich gewesen, sie zu sehen: an ihrem Tischlein sitzend, das liniierte Blatt vor sich, die Fingerchen so fest um den Federstiel gekrallt, daß ihre zarten Gelenke ganz weiß wurden, formte sie sorgsam und mühevoll große A mit dicken Bäuchen und eckige O und schraubenförmige I. Aber das war nur der erste Anfang, und bald erklärte Heideschmied, sie mache Fortsprünge, nicht Fortschritte. Wenn ihre Brüder zu ihr sagten: „Warum plagt sie sich? Sie muß ja nicht, sie braucht ja nicht,“ erwiderte sie: „Aber ich will!“

„Und warum will sie?“

Ja, das sagte sie nicht, das mochten die Brüder nur erraten!

Sie rieten und rieten und errieten es nicht, und erst als ihre allzu straff gespannte Neugier nachzulassen drohte, wurde sie befriedigt.

Elika lernte schreiben, damit sie ihnen Briefe schicken könne.

Sie lachten: „Uns will sie Briefe schicken? Ueber den Gang? Aus ihrem Zimmer in unseres?“

„O nein! von viel weiter her.“ Und jetzt nahm sie die kluge und wehmütige Miene an, die jeden rührte und entzückte: „Ihr werdet im Garten sein und an gar nichts denken und auf einmal werden zwei kleine goldene Wolken sich auseinanderschieben und drei Briefe werden herunter fallen. Ein rosenfarbiger, ein grüner und ein lichtblauer, und die werden für euch sein und ihr werdet gleich wissen von wem, und drin wird stehen, wie schön es im Himmel ist und wie gut es mir geht und alles.“

Da heimste sie für ihre liebreiche Absicht die größte Dankbarkeit ein. Joseph gab ihr einen Zärtlichkeitsklaps auf den Kopf, Franz hatte Thränen in den Augen und Leopold sagte, man müsse ihr wieder etwas schenken. Von all den Huldigungen war ihr der Klaps doch die liebste. Joseph stand ihrem Herzen am nächsten. Von ihm ließ sie sich nicht nur bedauern, sie bedauerte ihn wieder. Er lernte so schwer, unter so schrecklichen Qualen! und hatte schon heute vergessen, was ihm Heideschmied gestern mit Mühe eingetrichtert.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0295.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2020)