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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


Zu Fuß um die Erde.[1]

Das Kloster des Chanbo-Lama am Gänsesee.
Reiseskizze von K. von Rengarten.


Noch auf russischem Gebiete, etwa hundert Kilometer von der mongolischen Grenze entfernt, am Nordrande der etwa 700 m über dem Meeresspiegel belegenen Sselenginskischen Hochebene, befindet sich der Gänsesee (Gussinoje osero). Nur nach Nordosten wird er von einem terrassenförmig zu ihm abfallenden Ausläufer des Chamar-Daban begrenzt, weist aber sonst so flache Ufer auf, daß man sie füglich mit einer Tischplatte vergleichen könnte. Eine ebene Steppe dehnt sich auf eine weite Entfernung von den Südufern des Sees zur mongolischen Grenze aus und diese mußte mir ja ein günstiges Terrain zu meinem Marsche nach China bieten, also bedachte ich mich nicht lange, schwenkte bei Udungá von der Kiachtaschen „Kaufmannsstraße“ nach links ab, überstieg den 1300 m hohen Murtey und befand mich auf dem Wege zum einsam am Seegestade daliegenden Lamaïtenkloster. Es zog mich unsagbar dorthin, ich mußte den Sitz des Chanbo-Lama, des Obergeistlichen aller Lamaïten Sibiriens, mir ansehen.

Namtoy-Srat’-Zybakow, der augenblickliche Bandido-Chanbo-Lama oder Obergeistliche aller heidnischer Buriäten Sibiriens, steht unter direkter Vormundschaft des Kutuchtá in Urga, wenngleich er nicht von diesem, sondern vom russischen Kaiser durch ein besonderes Reskript im Amte bestätigt wird. Er gehört in die Zahl der sogenannten Gygeny: hohen Geistlichen. Nicht wie der Kutuchtá, oder vom Volke schlechtweg Bogdo-Lama genannte „Heilige“ in Urga, zählt er zu den Unsterblichen, deren Seele aus dem hinfällig werdenden Leibe stets in einen neugeborenen Säugling übergeht; sondern er ist ein gewöhnlicher Priester, und doch umgiebt ihn und seinen Wohnort alles das, was das Lamaïtentum so interessant werden läßt. Das also selbst kennenzulernen, war mein Ziel, daher „stiefelte“ ich munter „drauf los“ …..

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Der Wagen des Götzen „Maidari“.
Nach einer Aufnahme des photographischen Ateliers Petrow in Irvyzkossawsk.

Schon lange hatte der sibirische Urwald sich zu lichten begonnen und nur noch der kalte Herbstregen, der Gefährte all meiner letzten Wandertage, begleitete mich auch heute. Wie es mir um die Ohren pfiff, wie die Regentropfen mir ins Gesicht schlugen, als ich, aus einem Lärchenwäldchen tretend, die höchste Spitze des Murtey erreichte!

Vor mir zur Linken sah ich einen „Ombé“, als erstes Anzeichen des mir Bevorstehenden; auf ihn marschierte ich zu, und hier, auf jenem roh zusammengeschichteten Steinhaufen, wo die Opfer der Wanderer, kleine Stückchen Brot oder Zucker, kleine Zeugläppchen etc., umherlagen, sah ich eine mit mongolischen Schriftzeichen bedeckte Steinplatte und unter ihnen mit russischen Buchstaben die Worte: „Herr, erbarme Dich!“ eingegraben. Warum berührten mich diese Worte so eigentümlich? Ich blieb stehen und mußte nachdenken …..

Noch als unsere Vorfahren, die alten Germanen, heute das erste Volk der Welt, in rohen, finsteren Sitten fortlebten, als der Norden Europas noch keine Ahnung von dem ihm in weiter, weiter Ferne winkenden Kreuze zu Golgatha hatte, dämmerte nicht damals schon der rosige Morgen einer kommenden glücklicheren Zeit im fernen Indien auf? ….

Schikitmunni predigte eine neue Religion, von der Assoki d. Gr. später sagen konnte: „Eine prächtige Religion, sie schließt in sich den Begriff, nach Vermögen dem Bösen auszuweichen, viel Gutes zu stiften, sich Mitgefühl, Gnade, Gerechtigkeit und ein reines Leben zur Vorschrift zu machen.“

Dreihundert Jahre vor Christus hatte jener indische König das zu sagen vermocht, von Humanität durchdrungen, war er bestrebt gewesen, der Buddhalehre eine sichere Grundlage zu geben, dann kam im 14. Jahrhundert der Reformator Tsonchawá, schuf ein unnützes Ceremoniell, brachte Hierarchie und Disziplin in jenen Glauben, machte aus der Buddhalehre den Lamaïsmus, und was blieb noch? – Farbenprächtige Priestergewänder, Paukenklänge und Hornmusik während der „Churale“ (feierlichen Gebete), das scheint alles zu sein! So habe auch ich gedacht, so lange ich nicht persönlich mit Lamas verkehrte, so lange ich nicht das Seelenleben des schmutzigen, heidnischen Buriäten kennenlernte! Doch davon später, jetzt zu meinem Besuche des Klosters!

Immer regnete es noch in Strömen, als ich vom Gebirge zur Ebene hinabstieg. Links und rechts hatten sich Wasserlachen gebildet, auf welchen sich zahlreiche wilde Schwäne, Gänse und Enten während ihres Zuges nach dem Süden zur Ruhe niedergelassen hatten; allein das Lamaïtentum verbietet ja, einen Vogel zu töten, und daher wollte ich dieses Recht der geflügelten Reisenden nicht schmälern: ich senkte meine auf einen prächtigen Schwan gerichtete Büchse. Endlich langte ich am Dotzan (Kloster) an und stand vor dem recht stattlichen Tempel.

Trotz des Regens unterließ ich es nicht, einen Blick auf dieses von über zweihundert kleinen Holzhäuschen umgebene Gebäude (vgl. Abbildung S. 273) zu werfen, das, in seinen unteren Teilen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0269.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2024)
  1. Vor etwa drei Jahren haben wir unseren Lesern mitgeteilt, daß Herr K. v. Rengarten den Plan gefaßt habe, den Erdkreis zu Fuß zu durchwandern, und daß er uns von Zeit zu Zeit Berichte über seine Erlebnisse senden werde. Zwei Beiträge aus der Feder des rüstigen Fußwanderers sind im Jahrgang 1895, S. 304 und S. 754, erschienen, heute lassen wir ihnen einen dritten folgen. Herr v. Rengarten hat bereits den größten Teil seiner Aufgabe gelöst; von seinem Wohnort Riga ist er nach dem Kaukasus gewandert und hat von dort das asiatische Festland durchquert; nachdem er Japan besucht hatte, schiffte er sich nach Amerika ein und trat von San Francisko aus seine Wanderung zu Fuß durch die Neue Welt an. Im Februar d. J. schrieb er uns aus Chicago, daß er bis dahin 21087 km zu Fuß zurückgelegt habe und in New York sich nach Europa einzuschiffen gedenke, um dann seine Fußreise nach Riga fortzusetzen. D. Red.