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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Kopf geneigt, stand Bornholm und starrte zu dem ausgebröckelten Ziegelboden nieder. Er sah – sah so deutlich wie einst als Kind, den Sarg vor sich, in dem die schöne Leiche seiner Mutter lag. Ein zerschlissenes schwarzes Seidenkleid hatte Alwilde ihr angezogen und ihr ein weißes Tuch über der Brust gekreuzt. Ach, das stille, wachsbleiche Gesicht ... die weißen Lippen … Gab es einen beredten Mund, gab es leidenschaftlich bewegte Züge, die so eindringlich sprechen konnten wie dieses verklärte Totenantlitz? – „Ich bin im Frieden gestorben,“ sagte es, „und es giebt nichts Schöneres als den Frieden.“

Bornholm sah auch sich selbst – sah, wie er sich damals über den Sarg geworfen und gerast hatte in wilder Reue:

Daß er sich belügen, daß er sich Abscheu einflößen ließ gegen seine Mutter, daß es nur eins gab, womit der Vater ihn zu schrecken vermochte, die Drohung: „Warte, du wirst zur Mutter gesperrt!“

Wäre er nicht ein dummer Junge gewesen! hätte er eine deutlichere Erinnerung an seine frühe Kindheit und an seine Mutter gehabt, er würde die Trennung von ihr nicht erduldet, er würde nie geglaubt haben, daß sie eine Sünderin war, die Gewissensqualen zum Wahnsinn getrieben, und nun eine böse und gewaltthätige Irre sei.

Wäre er nicht ein dummer Junge gewesen! Er würde sie nicht erst in ihrer Todesstunde wiedergesehn haben, er wäre zu ihr gedrungen, ihrem Kerkermeister zum Trotz, und wäre bei ihr geblieben und hätte sie getröstet und angebetet, oder sie befreit …

O dummer Junge! dummer Junge!

Ein Lächeln voll Bitternis spielte um Bornholms Lippen; jahrelang schlummerndes Leid erwachte wieder. Er fühlte einen Nachhall des Schmerzes von einst. Die übermächtige Qual der Reue, die ihn zu Boden geworfen hatte, die Wut, mit der er sich die Stirn am Rande des Sarges blutig schlug und seinen Kopf zerschmettern wollte, seinen dummen Kopf.

Reue – an dem Tage hatte er erfahren, wie sie thut, und später die schwächliche, nutzlose Empfindung in sich auszurotten gesucht. Die neue Lehre war verkündet worden, und gierig, mit tausend Lippen, hatte er sie eingesogen. Er hatte alles von sich gewiesen, was nagt und peinigt, er hatte gelebt und genossen und war ein moderner Mensch und ein eifriger Apostel des rosengekrönten Heilands geworden.

Und doch nicht glücklich – doch schon ergriffen von dem nagenden Hunger des Uebersättigten, dem Hunger nach einer Stunde inneren Friedens!




Es war merkwürdig, aber die arme Kleine, die immer kränkelte, immer Kopfschmerzen hatte, Gliederchen so zart, daß man nur staunte, wie sie überhaupt Gebrauch von ihnen machen konnte, und eine Haut, schneerosenbleich, lebte weiter.

Allabendlich wurde Soiree abgehalten im Kinderzimmer. Herr von Kosel saß in seiner Ecke, schaute und schwieg. In seiner Stimmung und in seinem Benehmen genau derselbe wie in den ersten Tagen nach dem Tode seiner Frau. Damals, meinte Frau Budik, sei etwas in ihm gerissen, das nie und nie mehr zusammenwachsen werde.

Anfangs war er den Tanten erstaunlich gefaßt vorgekommen, dann erkannten sie: Er hat noch nicht einmal begriffen, daß es wirklich vorbei sein soll mit seinem Glück. Er klagte nie, er schien nicht einmal sehr traurig, nur verträumt, nur wie einer, der sich in einem Zustand fühlt, der unmöglich dauern kann. Sein Aussehen war so frisch und gut wie je, seine Augen glänzten so hell wie je, aber ihr Blick war unstet und seltsam gespannt. Er horchte auf, wenn sich plötzlich Schritte hören ließen, wenn sich jemand der Thür seines Zimmers näherte. Trat dann ein Diener oder eins der Kinder ein, zog er die Augenbrauen in die Höhe und sagte mit plötzlichem Sichbesinnen: „Ach ja!“

Und so saß er auch still in seiner Ecke, und sehr symmetrisch in der nächsten, zwischen zwei Fenstern, saß Heideschmied und war grau vom Kopf bis zu den Füßen. Nach dem Fenster zu seiner Rechten kam ein breiter Pfeiler, abermals ein Fenster und dann kam die Ecke mit den Tanten. Wie zwei gutmütige alte Dohlen saßen sie nebeneinander in ihren schwarzen Stiftsdamenkleidern und die große, sanfte Renate arbeitete wieder an einem monumentalen Werke der Kunststrickerei, und die kleinere lebhafte Charlotte wechselte von Zeit zu Zeit stolze und glückverklärte Blicke mit Frau Budik, die sich mit dem ehrwürdigen hellgrünen Kachelofen in den Besitz der vierten Ecke teilte; und Charlotte murmelte: „Nein, diese Fratzen!“ und Frau Budik murmelte: „Nein, diese Kinder!“

Ein Höllenlärm herrschte.

Die drei Buben produzierten vor ihrer Schwester äußerst verwegene Akrobatenkünste und ließen dabei eine wilde Vokalbegleitung erschallen. Aschantis brüllen nicht schöner. Zeitweise unterbrachen sie ihr Geschrei, um das Publikum durch täuschende Nachahmung von Tierlauten, durch Krähen, Grunzen, Miauen, zu erfreuen.

Als Königin dieses Festes fungierte Elika. Sie saß auf ihrem hohen Kinderstuhle, die flachen Hände auf das in der Lehne eingelassene Tischchen gelegt. Sie hatte jetzt dünne Locken von seidenleichtem, seidenweichem Haar, die bei jeder Bewegung der Luft ein wenig flatterten. Ihre Wangen bekamen, so oft ein besonders kühnes Kunststück aufgeführt wurde, einen rosigen Anhauch; ihr Mund, nicht klein, aber fein geschnitten, und unglaublich ausdrucksvoll für den Mund eines so jungen Kindes, hatte ein rührendes, ein, wie dem Leiden abgewonnenes Lächeln, das die Leistungen der drei Akrobaten reich belohnte. Wenn Elika aber „Bravo! bravo!“ rief und in die Händchen klatschte, gerieten die Brüder in Begeisterung. Sie stürzten auf die Kleine zu und erstickten sie fast mit Zärtlichkeiten. Man mußte sie vor ihnen retten.

„Wir können noch viel schönere Sachen,“ sagte Leopold einmal. „Kommen Sie nur mit Elika zur Turnstunde in den Garten, Poli, da werden Sie sehn!“

„Da wejn Sie sehn!“ wiederholte Franz mit ernstem Kopfnicken, „und auch die Tanten sollen kommen.“

„Ja, ja, freilich, die Tanten auch!“ riefen Joseph und Leopold und die Tanten versprachen, sich pünktlich einzufinden. Daß auch das Haupt der Familie, daß auch Herr von Kosel geladen werden könne, fiel niemand ein, nicht einmal ihm selbst.

Renate besann sich dessen plötzlich bei Nacht. Es fiel ihr schwer aufs Herz. Mitten unter den Seinen auf einem Isolierschemel stehn, das kann doch nicht angenehm sein.

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An einer der geschütztesten Stellen im Garten, unter alten, hohen Erlen, befand sich Elikas Spielplatz und der Pavillon, in dem sie ihre Puppenwirtschaft eingerichtet hatte. Eine Eremitage mit strohgedecktem Dache, die Wände in- und auswendig mit Baumrinde benagelt. Auf dem Wege neben dem Pavillon war ein Hügelchen aus feinem Sande aufgeschichtet, den Elika siebte, mit dem sie kochte, in den sie ihre Puppen bis an den Hals eingrub, weil das für Kinder so gesund ist.

Bei der Eremitage traf, eine halbe Stunde vor der großen Produktion, Herr Heideschmied mit seinen Zöglingen ein, und während die Jugend beim Sandhügel spielte, nahm der Hofmeister neben Frau Budik auf der Bank am Hause Platz und beugte sein Haupt unter dem Schwall der Rede, der sich alsbald über ihn ergoß. Apollonia hatte sich auf ihr Steckenpferd geschwungen und ließ sich von ihrem hölzernen Pegasus in schwindelnde Höhen tragen. Sie wurde zur begeisterten Dichterin, wenn sie das Lob des Hauses Kosel sang. Das Aeußerste leistete sie in der Verherrlichung der drei jungen Herren. Das waren Kinder von ihrem ersten Atemzüge an, Kinder, wie die Erde keine besseren trägt. Herzen hatten sie – das pure Gold! ’s ist wahr, Apollonia gab dem Eigentümer eines dieser goldenen Herzen hier und da einen Puff, daß ihm die Rippen krachten, aber – „Du lieber Gott, es sind halt Buben!“

„Knaben, ja wohl, sehr lebhafte Knaben,“ flocht hier Heideschmied in die krausen Reden Frau Budiks ein, und diese Worte schienen ihr, sie wußte selbst nicht warum, eine Art Tadel zu enthalten, und jetzt ging sie los wie eine überladene Mine. Die Lobpreisungen begannen von neuem und dauerten – Heideschmied konnte nicht genau sagen wie lang’, denn eine Uhr besaß er nicht, aber sehr lange kam es ihm vor.

Endlich wurden sie unterbrochen. „Poli!“ schrie Joseph aus

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0266.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2020)