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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

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Die arme Kleine.
Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.

(2. Fortsetzung.)


Die Wirkung dieser gesprochenen Bombe war sehr groß. Kosel blickte verstört um sich, überall Hilfe suchend gegen das Attentat Charlottens auf seine Selbstbestimmung und Selbstherrlichkeit. Wußte er nicht ohnehin, was jeder in seinem Hause brauchte? war nicht für alles aufs beste gesorgt? war die Einzige, die in derlei Angelegenheiten mitzureden gehabt hätte, nicht für immer verstummt? Traurige Verlassenheit, in der er sich befand, herzbrechende! Nun ja, sie war ja fort, die ihn geliebt, bewundert, und wenn geleitet, rücksichtsvoll und schonend geleitet hatte. Jetzt sollte er nur so ohne weiteres geleitet werden.

Er bäumte sich auf. „Tante Renate! Herr Pfarrer!“ rief er, „sind auch Sie der Meinung, daß meine Buben einen Hofmeister brauchen? Ist denn ihre Erziehung bisher vernachlässigt worden?“

„Vielleicht nur nicht genug überwacht,“ erwiderte Renate mit einem um Entschuldigung bittenden Blick. Und der Herr Pfarrer erklärte in seiner freundlich entschiedenen Weise, er fände, daß es Zeit wäre, einen Erzieher für die jungen Herren zu suchen.

„Suchen? Ja, suchen wäre freilich leicht. Aber wie sieht es mit dem Finden aus, um das es sich dabei doch handelt, einzig und allein?“ … versetzte Kosel. „Suchen – finden! das sagt man so; doch welche Kluft zwischen suchen und finden liegt, bedenkt man nicht.“

Er vertiefte sich in teils ausgesprochene, teils unausgesprochene Betrachtungen über diese Kluft, bis die gute Pendeluhr Zehn schlug und man schlafen ging.

Das Ende war, daß die Tanten suchten und der Neffe glaubte gefunden zu haben. Eines Tages erschien vor Kosel ein langer, hagerer, dürftig gekleideter Mann mit großem Kopf, großen Zügen und einer Fülle grauer, welliger Haare, der einen Empfehlungsbrief vom Herrn Landesschulrat überbrachte. Er verneigte sich ehrerbietig und sagte etwas, aber so leise, daß es unmöglich war, ihn zu verstehen. Seine Stimme und die knochige Hand, die einen Brief und ein Paket Zeugnisse überreichte, zitterte, und dieses Zittern war Herrn von Kosel schmeichelhaft.

„Setzen Sie sich,“ sprach er und las den Brief des Landesschulrats langsam und aufmerksam durch. „Sie heißen Heideschmied, wie ich mit Vergnügen sehe,“ begann er nach beendeter Lektüre und brauchte zum Glück niemand Rechenschaft zu geben von dem Grunde seines Vergnügens.

„Wilhelm Heideschmied,“ flüsterte der Angeredete äußerst beklommen.

„Und Sie wünschen die Stelle eines Erziehers bei meinen Söhnen zu übernehmen …“

„Ich wäre glücklich …“

„Und der Herr Schulrat empfiehlt Sie warm, ja, ja, warm,“ bekräftigte Kosel. „Es freut mich, Sie gefunden zu haben. Aber, Herr Heideschmied …“ Er warf einen Streifblick auf den schüchternen Mann, den ein Schauer nach dem andern durchbebte: „Meine Söhne sind wild, sehr wild.“

„Das ist recht,“ lautete die überraschende Erwiderung, „das ist mir ganz recht, meine früheren Zöglinge waren auch sehr wild.“

„Dann werden Sie wohl eine gute Methode haben,“ bemerkte Kosel und verbreitete sich ein bißchen und mit häufigen Wiederholungen über den Wert einer guten Methode. Heideschmied hörte andächtig zu, blieb immer gleich bescheiden und ehrfurchtsvoll, aber das Zittern legte sich. Es kam auch nicht wieder zum Vorschein, als Herr von Kosel ihn in den Sibyllenturm führte, um den Damen den Erzieher vorzustellen, den er für seine Söhne gewählt hatte.

Die Schwestern waren gewinnend liebenswürdig, und als man in den Garten ging, um die „Buben“ aufzusuchen, vertraute Renate Herrn Heideschmied an:

„Wir wissen, mit wem wir es zu thun haben. Meine Schwester hat Ihretwegen im Auftrage meines Neffen mit dem Herrn Landesschulrat in Korrespondenz gestanden.“

Auf die jungen Herren mußte ein Treibjagen abgehalten werden wie auf Hasen. Endlich kamen sie in Sicht. Joseph und Leopold zu Pferde, Franz, ein Paar störrischer Böcke kutschierend.

„Steigt ab! steig aus!“ rief Kosel. „Kinder, begrüßt den Herrn Hofmeister!“

„Gleich, Papa, gleich!“ gaben sie zur Antwort und stürmten weiter. Heideschmied sah ihnen mit freudig leuchtenden Augen nach und sprach leise: „Es sind herrliche Kinder, ich liebe sie schon.“

– – – – – – – – – – – – –

Nachmittags saß Kosel im Zimmer Elikas, auf seinem gewohnten Platz, einem niedrigen Fauteuil in der Ecke neben dem Fenster, aus dem sich ein Ausblick über den Gruftgarten bot. Er war durch die Straße vom Parke getrennt, der das Schloß umgab, und bildete eine breite, eingefriedete Bucht in die angrenzenden Felder. Das vergoldete Kreuz der Kapelle glänzte im Sonnenschein zwischen den Bäumen und sprühte feurige Funken durch ihre Wipfel, die der Wind leise schaukelte.

Kosel war in eine seiner dumpfen Träumereien versunken. Ja, dachte er, es kommt wirklich vor, daß wer sucht, findet. Da hab’ ich jetzt einen Hofmeister für die Buben gefunden und habe ihn engagiert, habe einen solchen Entschluß gefaßt – ich allein – ohne sie … Aber ... wer weiß? vielleicht nicht ohne sie. Vielleicht war sie’s, die den Mann geschickt hat, vielleicht wacht sie drüben über ihre Kinder und sorgt für sie, und ist noch bei uns, im Geiste … und das ist so viel … so viel …

Aber dieses „viel“ schien ihm doch lang’ nicht genug. Eine brennende, rat- und hilflose Sehnsucht erfaßte ihn gar oft. Er senkte das Haupt und begegnete einem fest und unverwandt auf ihn gerichteten Blick. Dem Blick des Kindes. Elika saß außerhalb der Gehschule auf dem Teppich, ganz und gar als glückliche Mutter. Sie hielt eine Puppe ans Herz gepreßt, eine lag auf ihrem Schoße, ein halbes Dutzend anderer umgab sie im Halbkreis, teils auf Stühlchen sitzend, teils in Wiegen gebettet. In dem Augenblick jedoch hatte sich ihre Aufmerksamkeit von ihnen ab- und Herrn von Kosel zugewendet. Forschend, durchdringend betrachtete sie ihn. Auf einmal ließ sie ihre Puppe zur Erde fallen, und mit Bedacht und mit einer wunderbaren Energie erhob sich das winzige Ding und stand auf seinen Beinchen.

Frau Budik, die sich still in der Tiefe des Zimmers gehalten hatte, um den gnädigen Herrn in seinen Gedanken nicht zu stören, stieß einen Schrei der Ueberraschung aus. Vorgestern erst hatte sie versucht, die Kleine auf die Füße zu stellen, und sie war hin und her gewankt und hatte gewarnt: „Nicht fallen lassen! nicht fallen lassen!“ …

Bei dem Kind kam alles anders als bei andern Kindern. Sie sprach wenig, aber von Anfang an deutlich und verständlich. Einen einzigen Schritt zu machen, war sie bisher unfähig gewesen – und jetzt ging sie, weil sie wollte, weil sie den Entschluß gefaßt hatte – ging geradeswegs auf ihren Vater zu, legte, bei ihm angelangt, die Aermchen auf sein Knie, sah zu ihm hinauf und sagte:

„Armer Papa!“

Er war verwundert, er blickte sie nicht ohne Interesse an. Regungen der Zärtlichkeit für seine Kinder kamen selten bei ihm vor; nun aber empfand er eine Art von wohlwollender und mitleidiger Zuneigung für seine Jüngste, für die unschuldige Muttermörderin. Er ließ die Hand über die Haare des Kindes gleiten.

„Sie ist herzig,“ sprach er zu Frau Budik. „Schad’, daß sie nicht bei uns bleiben soll.“




Es war die Gewohnheit des Nachtwächters von Velice, sich, nachdem er Zehn getutet hatte, in seinen Mantel zu wickeln, auf eine der breiten, steinernen Bänke auszustrecken, die rechts und links vom Portale des Schlosses standen, und einzuschlafen. Wenn er erwachte, gleichviel ob in stockfinsterer Nacht, ob im Morgengrauen, tutete er Elf. Von der Schloßuhr hatte er keine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0262.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2019)