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durch Don Juans Schuld zu Grunde gehn, und ihre Statuen beleben sich ebenfalls im letzten Akt, um den Frevler in die Hölle zu stürzen. Damit traf er sehr genau den Geschmack des spanischen Publikums. Sein „Don Juan“ ist eines der beliebtesten Stücke geblieben und wird in den meisten Theatern Spaniens des erbaulichen Schlusses wegen regelmäßig am Allerseelentage gespielt.

Der Steinerne Gast hat sich auch in unserem skeptischen Jahrhundert noch lebenskräftig genug erwiesen, um eine Tochter zu erzeugen, die auf französischen und deutschen Provinzbühnen noch hie und da zu finden ist. Wir meinen die Marmorbraut in Herolds „Zampa“, der im Jahre 1831 in Paris entstand und sich rasch auf allen Opernbühnen einbürgerte. Es ist möglich, daß der Textdichter des „Zampa“ in Sicilien, wohin er seine Handlung verlegte, eine Sage von einer die Untreue rächenden weiblichen Statue aufgefunden hat, aber ohne das Beispiel des Don Juan würde sich Herold wohl kaum erkühnt haben, diesen Stoff zu ergreifen. Die „fromme Alice“, welche der Seeräuber und Herzensbrecher Zampa hat sitzen lassen, öffnet zwar nicht den Mund zum Singen oder Sprechen wie der Gouverneur im „Don Juan“, aber wirkt andere Wunder. Da ihr der Ungetreue zum Hohn einen Trauring an den marmornen Finger steckt, schließt sie die Hand, und mit keiner Gewalt kann der Räuber ihn zurücknehmen. Später errettet sie durch ihr Erscheinen die unglückliche Camilla vor der Umarmung des Räubers und zieht diesen mit sich in die Versenkung. Obschon weder Zampa ein so vollständiger Charakter ist wie Don Juan, noch seine Marmorbraut so entscheidend eingreift und so verständlich ist wie die Statue des Gouverneurs, hat der Stoff doch dem Komponisten ausgezeichnete Dienste geleistet. Besonders gut gelang dem französischen Tonsetzer die Scene, wo dem Zampa nach dem Wunder der geschlossenen Marmorhand das übermütige Trinklied in der Kehle stecken bleibt, zu dem er seine Genossen fortreißen will, damit sie den peinlichen Vorfall vergessen. In der Schlußscene dagegen hat Herold nichts gefunden, um uns über den ziemlich lächerlichen Eindruck hinwegzuhelfen, daß die marmorne Alice als eifersüchtige Liebhaberin unter der Thür des Schlafgemachs erscheint, in welches Zampa seine letzte Eroberung zu schleppen sucht. Hier ist seinem Textdichter und ihm selbst sowohl der Glaube des alten Tirso de Molina, wie die Phantasie Mozarts abhanden gekommen.

Nahe verwandt mit den lebenden Statuen sind die künstlichen Menschen, die zuerst in den abergläubischen Vorstellungen der Völker spukten und später künstlerische Verwendung fanden. Sie unterscheiden sich von den lebenden Statuen dadurch, daß sie von vornherein zur Täuschung geschaffen werden. Als ältestes Vorbild kann die antike Pandora gelten, wie sie in den Dichtungen des griechischen Dichters Hesiodos auftritt. Pandora ist zwar kein menschliches, sondern ein göttliches Kunstprodukt, aber nach Hesiod haben sich bei ihrer Hervorbringung die Olympier mit höchst menschlicher Bosheit benommen. Zeus wollte nämlich den Prometheus dafür strafen, daß er den Menschen das Feuer verschafft hatte. Daher ließ er von den Göttern ein weibliches Wesen zusammensetzen, dem Aphrodite Schönheit, Pallas Verstand und Kunstfertigkeit und Hermes die Fähigkeit zu lügen und zu betrügen verleihen mußten. Sie sandte er dem Bruder des Prometheus, dem leichtsinnigen Epimetheus, zu, der trotz der Warnung des Bruders vor den Geschenken des Zeus die Pandora und die verschlossene Truhe, die sie mitbrachte, zu sich nahm. Insgeheim öffnete diese hierauf die Truhe, aus der alle Übel herausdrangen und sich unter den Menschen verbreiteten. Diese böse Pandora machte jedoch unter den Griechen nicht viel Glück, weil sie ihren optimistischen Anschauungen wenig entsprach. Sophokles scheint sich in einem verloren gegangenen Satyrdrama über den Gegenstand lustig gemacht zu haben, und diese komische Färbung kehrt immer wieder, wo die Dichter späterhin künstlich erzeugte Menschen auf die Bühne brachten. Goethe hat zwar zweimal ein ernstes Pandora-Drama zu schreiben begonnen, worin er die pessimistische „Allesgeberin“ des Hesiod ins Optimistische zu übertragen gedachte, aber er brachte es auch beim zweitenmal nicht über den ersten Akt hinaus. Im zweiten Teile des „Faust“ schuf er sich später seinen eigenen Kunstmenschen, den fürwitzigen Knaben Homunculus, den der Famulus Wagner auf chemischem Wege in einer Retorte hervorgebracht hat und der Faust und Mephistopheles als Wegweiser zur klassischen Walpurgisnacht dient. Dort zerschellt er freilich gar bald am Muschelwagen der Galatee, da er über seine Kräfte hinaus für die antike Schönheit erglüht. Leider gehört aber der Homunculus zu den rätselhaftesten Elementen des zweiten Teils des „Faust“. Er hat den Goethephilologen mehr Pein als den gewöhnlichen Sterblichen Wonne verursacht und blieb daher ohne jegliche Wirkung auf spätere Dichter.

Viel glücklicher war ein anderer Kunstmensch, der vielleicht später als Goethes Homunculus entstanden ist, aber sehr viel früher öffentlich bekannt wurde. Es ist die von E. T. A. Hoffmann erfundene weibliche Automatenfigur Olympia im „Sandmann“, welche so trefflich ausgeführt ist, daß sie dem Helden der Novelle eine tiefe Leidenschaft einflößt und ihn zum Wahnsinn und Selbstmord treibt. Hoffmanns bewegliche Phantasie knüpfte hier an eine historische Thatsache an. Im Jahre 1738 hatte der geniale Mechaniker Vaucanson in Paris zum erstenmal einen Automaten vorgeführt, der auf einer Flöte einige einfache Melodien blies. Es war die erste Spieldose. Auch Hoffmanns Olympia ist vor allem ein musikalischer Automat. Sie singt mit wunderbarer Sicherheit und Fertigkeit. Aber noch wunderbarer ist, daß sie prächtige ausdrucksvolle Augen hat, und dies wird von Hoffmann mit der ihm eigenen Vorliebe für das Grauenhafte so erklärt, daß der entsetzliche Coppelius dem Automaten die blutigen Augäpfel eingesetzt hat, die er einem seiner menschlichen Opfer ausgerissen. Warum hat aber diese Olympia Hoffmanns so viel Glück gemacht? Darum, weil auch hier der Aberglaube im Spiel war. Für Hoffmann waren nämlich alle diese Spukgestalten, die er schuf, im Augenblicke, da er sie zu Papier brachte, keine Märchengebilde, sondern er glaubte so fest an sie, daß er sich selbst vor ihnen fürchtete. Er schrieb regelmäßig nachts, nachdem er im Weinhause stark gezecht hatte, und wenn er dann den schrecklichen Coppelius oder den Mönch Medardus oder eine ähnliche Gestalt unter die Feder bekam, so weckte er seine gutmütige Frau, damit sie sich mit ihrem Strickstrumpf neben ihn setze und ihn durch ihre Gegenwart beruhige. Nur, weil er selbst an die verführerische Schönheit seiner Olympia glaubte, machte sie auch auf seine Leser einen so starken Eindruck. In Frankreich war die Wirkung Hoffmanns noch größer als in Deutschland. Hier war es denn auch, wo seine Automate mit Vorliebe auf die Bühne verpflanzt wurde. Adam, der Komponist des „Postillon“, widmete den künstlichen Menschen zwei Opern, die lange gespielt wurden, „La Poupée de Nuremberg“ und „Les Pantins de Violette“. Delibes fand in der Tochter des Coppelius, die er „Coppelia“ nannte, den Stoff zum besten Ballett, das in den letzten fünfzig Jahren in Paris entstanden ist. Damit nicht genug, griff der alternde Offenbach nochmals die Geschichte auf und machte aus ihr den zweiten Akt seiner komischen Oper „Les Contes d’Hoffmann“, welche vielleicht nicht seine glücklichste, aber sicher seine ernsthafteste Leistung geblieben ist. Delibes’ „Coppelia“ wirkte hinwiederum auf Wien zurück und ließ dort Bayers „Puppenfee“ entstehen, welche seit einigen Jahren über alle deutschen Bühnen geht.

Die letzte Bearbeitung der lebenden Puppe lieferte endlich Paris vor zwei Jahren in der Operette „La Poupée“ von Planquette. Hier war freilich die Sache recht geistreich umgedreht. Ein Weiberfeind, der sich einer Erbschaft wegen verheiraten mußte, ließ sich mit einer Automatenfigur trauen, aber die Tochter des Mechanikers spielte die Rolle der Figur und bekehrte den Hagestolz durch diesen frommen Betrug zur Liebe.

Die lebende Statue ist ein künstlerischer, die Automatenfigur, welche tanzt, spricht und singt, ein wissenschaftlicher Aberglaube. Beide liegen heute dem einigermaßen gebildeten und verständigen Menschen völlig fern. Deshalb sind sie denn auch im Theater fast nur noch in musikalischer Umkleidung möglich, denn die Musik besitzt die Gabe, uns am leichtesten aus der Wirklichkeit in das Wunderland des Märchens zu versetzen. Sollen wir sie auch in dieser Gestalt verdammen? Sollen wir nicht vielmehr einem Wahne Dank wissen, der unseren Dichtern und namentlich unseren Tonsetzern den Stoff zu so viel teils erschütternden, teils erheiternden Scenen geliefert hat?




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