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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Charlotte beschloß, einmal an einer Lehrstunde teilzunehmen, und führte am nächsten Tage ihren Vorsatz aus.

Schloß Belice bildete ein regelmäßiges, einstöckiges Viereck; in der Ecke, dem Sibyllenturm schräg gegenüber, befand sich das riesige sogenannte „Bubenzimmer“. Es hatte einen tiefen Alkoven, indem, durch Waschtische getrennt, die Betten der drei standen, und glich am Morgen, nach der beendigten Toilette seiner Bewohner, mehr einem See als dem Aufenthaltsort auf dem Festland lebender Wesen. Das eigentliche Zimmer bot den Anblick chaotischer Zustände. Auf den ersten Blick entwirren, was da alles durcheinander lag und hing und hervorquoll aus den offen stehenden Schränken und Laden, war unmöglich. Ein Sammelsurium von Werkzeugen, zertrümmerten Möbeln und Spielsachen, getrockneten Pflanzen, aufgespießten Käfern und Schmetterlingen, Mineralien, Waffen, Musikinstrumenten bedeckte die Tische, den Fußboden, die wenigen Sessel, die noch auf ihren vier Beinen standen. An dem breiten Pfeiler zwischen den Fenstern, links vom Alkoven, lehnte ein Kanapee und diente in diesem Augenblick dem Schullehrer als Lagerstätte. Er war ein mittelgroßer, derb gebauter Mann, mit kurzem Hals und wuchtigem Kopf, von dem die Ohren wie ein paar Fledermausflügel abstanden. In seinem flachen Gesichte fehlte nicht eine Schattierung vom lichten bis zum gebrannten Ocker; er sah verbittert und böse und sehr gescheit aus. Seinen Anzug bildeten weite dunkle Beinkleider, eine abgetragene Czamara und ein rotgestreiftes Flanellhemd mit tintenbeklecksten Manschetten. Er las laut aus einer böhmischen Grammatik vor, indes seine Zöglinge munter Federball spielten. Sie zählten eben hundert, als Charlotte eintrat, und begrüßten sie voll Freude und riefen ihr zu: „Spiel’ mit, Tante! spiel’ mit!“

Sie dankte, sie war nicht gekommen, um sich zu unterhalten, sondern um der Unterrichtsstunde zu assistieren.

Die arme Tante, der Unterrichtsstunde? o je, da kam sie zu spät, die Unterrichtsstunde war gleich vorbei.

„Wir sind fertig,“ sagte der Lehrer, der aufgestanden war, und klappte sein Buch zu.

„War das jetzt eine Unterrichtsstunde?“

„Zu dienen, Gnädige.“

Die Buben warfen ihre Raketten hin und stürmten in den Garten. Gern wäre der Lehrer nun entschlüpft, doch bequemte er sich, zu bleiben, weil ihn das Fräulein so sehr höflich darum bat. Um aber seine Ungeduld und das Opfer, das er brachte, zu markieren, warf er fortwährend sehnsüchtige Blicke nach der Thür.

Eine Verlegenheitspause entstand. In ihrem altjüngferlichen Respekt vor jedem männlichen Wesen fand Charlotte nicht gleich das rechte Wort, um die Bedenken, die sich in ihr erhoben hatten, schonend genug auszusprechen. Endlich begann sie in bescheidenem Tone:

„Ich bitte um Entschuldigung, Herr Lehrer; ich möchte nur fragen, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn die Knaben sich zum Unterricht zu Ihnen, Herr Lehrer, an den Tisch setzen und lieber nicht Federball spielen würden.“

Er lächelte. Charlotte behauptete später, es sei ein so grüngelbes Lächeln gewesen, wie sie in ihrem ganzen Leben keines gesehn hätte, und erwiderte: „Sie thun’s nicht, sie setzen sich nicht…“

„Auch nicht, wenn Sie es ihnen befehlen?“

Dazu besitze er kein Recht, lautete seine Antwort. Der gnädige Herr habe ihm vielmehr aufgetragen, die jungen Herren spielend zu unterrichten.

„Das heißt aber nicht, daß die Kinder während des Unterrichts spielen sollen.“

„Sie legen es so aus, sie sagen: ,So hat der Papa es gemeint. Ich käme da schön an, wenn ich von ihnen Fleiß verlangen würde wie von den Kindern gemeiner Leute.“

Es fiel ihm denn auch nicht ein. Er gab seine Unterrichtsstunden, das war seine Sache; daß die jungen Herren nichts lernten, war ihre Sache. Und wozu brauchten sie „da“ zu lernen? Hatten sie „da“ nicht ohnehin alles, und würden es ihr Leben lang haben, eine schöne Wohnung und schöne Kleider und gutes Essen. Warum sollten sie auch noch Wissen haben? Dieser einzige Reichtum, der nicht vererbt werden kann, den sich jeder selbst erwerben muß, bleibe ihnen nur vorenthalten, bleibe der Henkel, an dem der Arme, der etwas weiß und versteht, sie faßt und von sich abhängig macht.

In dem Sinne sprach er eine Weile weiter und breitete allmählich sein ganzes Innere vor ihr aus. Welch’ ein Inneres! wie so ganz erfüllt von dem kläglichen Haß, der seine Wurzeln im Neide hat. Wieder eine Armut, auf die man in diesem Hause stößt, dachte Charlotte und empfand tiefes Mitleid und sagte in ihrer Großherzigkeit und ihrer Gerechtigkeitsliebe:

„Ihre Auffassung ist sehr merkwürdig, Herr Lehrer, aber eine gewisse Berechtigung will ich ihr nicht absprechen. Nur eins, Herr Lehrer, muß ich Ihnen gestehen, ich würde einen Mann, der diese Anschauungen hat, nicht gerade zum Instruktor meiner Kinder machen, wenn mir der Himmel welche geschenkt hätte.“




Ein trauriger Tag auf Schloß Belice. Die Kleine hatte einen der Schwächeanfälle gehabt, die sogar Frau Apollonia Budik in Bestürzung versetzten. Aber Elika erholte sich und verlangte nach ihren Brüdern. Sie kamen und rauften miteinander um den besten Platz zunächst am Gitterbettchen der Schwester, was ihr zwar Vergnügen zu machen schien, von Frau Budik jedoch nicht lange geduldet wurde. Sie mußten sich alle drei schön in eine Reihe setzen, und Joseph erzählte Geschichten, die Leopold und Franz über alle Begriffe dumm fanden, die aber der Kleinen gefielen. Sie hörte ganz zufrieden zu, bis sie einschlief.

Der schwere Augenblick, auf den man sich immer gefaßt machte und vor dem man immer zitterte, war einmal wieder in die Zukunft verlegt worden. Im Hause atmeten alle freier, als die momentane Gefahr für das Leben des Kindes glücklich vorüberging. Es wird noch trauriger werden, wenn sie fort sein wird. Man hat sich an den Anblick des blassen Geschöpfchens gewöhnt, die Kühlsten, die Gleichgültigsten fühlten eine warme teilnehmende Regung, wenn sie an ihnen vorbeigetragen oder vorübergeführt wurde in ihrem Korbwägelchen. Sie hatte etwas in ihrer Miene, das sagte: Seid gut mit mir, ihr werdet nicht mehr lange Gelegenheit dazu haben. Jedem flößte sie Erbarmen ein und machte niemand Mühe. Stundenlang konnte sie in ihrer Gehschule sitzen, mit einer Puppe, einem Schächtelchen, einem Knäuel spielen, oder eine ganze Weile hindurch laut- und bewegungslos mit weitgeöffneten Augen vor sich hinschauen.

„Wie der Papa. Sie denkt auch, lauter gescheite Sachen,“ sagte dann Frau Budik, deren Zuneigung für ihren Gebieter sich, nach dem Tode seiner Gattin durch Mitleid verstärkt, zu einer Art Fanatismus ausbildete. „Sie würde gewiß ein eben solcher Engel und ebenso gescheit werden, wie er ist, wenn sie am Leben bliebe.“

Dem traurigen Tage folgte ein trübseliger Abend. Das Nachtmahl war vorüber, das Kindervolk schlafen gegangen; man hielt, was Charlotte die Orgie der familienüblichen Langweile nannte, im Schreibzimmer Kosels ab.

Renate saß neben dem Herrn Pfarrer auf dem Kanapee hinter dem runden Tische und arbeitete an einem Wunderwerke der Strickkunst, einem Prachtkleidchen für ein beneidenswertes Dorfkind. Ueber ihr schönes, sanftes Gesicht glitt von Zeit zu Zeit ein Schatten resignierter Müdigkeit. Sie beugte sich vor, die schweren Lider fielen zu, aber nur einen Augenblick. Sofort hatte sie sich aufgerichtet und strickte bedächtig weiter. Der Pfarrer, ein alter, freundlicher Herr mit rundem slavischen Gesichte und kahlem Haupte, war nicht viel munterer. Er zog sehr oft die Tabaksdose aus der Tasche seines langschößigen Rockes und schnupfte ohne rechtes Bedürfnis und ohne rechten Eifer. Sein Gegenüber bildete Kosel und das Renatens die im stillen rebellierende Charlotte.

Ihr war jedes Talent zu Handarbeiten versagt, und doch hatte sie einen wahren Abscheu gegen den Müßiggang; stillsitzen und nichts thun verursachte ihr Pein, und diese Pein rief aggressive Gefühle gegen ihre Umgebung, natürlich nur die unbelebte, hervor. Gegen den faden, runden Tisch, auf dem die fadeste Lampe stand, unter deren grünem Schirm ein Hanswurst in Gähnkrämpfe verfiele! Gegen das ganze Zimmer, gegen die blaugrauen Ueberzüge der Möbel und die flachen blanken Stahlknöpfe in den Stepplöchern! Hat man je etwas so Albernes gesehen wie blanke

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0232.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2016)