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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Ja, ich kenne sie,“ sagt Edith und wundert sich selbst über ihre Ruhe, „es ist Franz Waldenberg mit seiner Frau und seinem Bruder; er scheint kränker geworden zu sein, sie sind erst seit dem Frühjahr verheiratet.“

„Wie traurig!“ bedauert die alte Gräfin.

Eine halbe Stunde später sitzt man bei Tische. Altwitzens haben ihre Plätze am Kopfe einer langen Tafel bekommen, unmittelbar neben ihnen sind drei Stühle unbesetzt geblieben, zwei neben der Gräfin, einer neben Edith. Diese muß sie immer ansehen – wenn nun dort – aber nein, sie werden ja in ihrem Zimmer essen – er sah ja zum Erbarmen aus, der Franz Waldenberg!“

Nach dem Roastbeef erscheint plötzlich Edi Waldenberg mit der Dame, ohne den Kranken. Der Oberkellner führt sie beflissen zu den leeren Stühlen neben der Gräfin und nimmt den dritten neben Edith fort auf einen Wink des jungen Mannes. Edi kommt ihr schräg gegenüber zu sitzen, und sie sieht ihn groß an mit ihren dunklen heißen Augen, die aus dem blassen Gesichtchen nur so zu sprühen scheinen. Er hat das Menü studiert, nun schaut er sich um und gewahrt Edith; er wird rot, verbeugt sich, läßt einen Blick über die Begleiter Ediths schweifen und sagt dann:

„Welche Ueberraschung, mein gnädiges Fräulein! Wollen Sie mich den Herrschaften vorstellen?“ Die kleine Frau neben ihm wird ebenfalls bekannt gemacht und in der nächsten Minute ist bereits eine lebhafte Unterhaltung angebahnt. „Woher? Wohin?“ wird natürlich zuerst erörtert. Altwitzens sind von Italien aus über den Simplon gegangen, haben sich lange Zeit in Genf aufgehalten und wollen in die Heimat zurück. Sie haben sich diesmal eine viel längere Erholungsreise gegönnt als sonst, aber nun – die Ernte, das Manöver, der Besuch der Enkel während der Schulfreien –.

„Wir haben leider keine so frohe Zeit vor uns,“ sagt Edi Waldenberg und ein mitleidiger Blick streift die hübsche junge Frau an seiner Seite, die mit den Thränen kämpft. „Mein Bruder ist in Sän Remo leider so krank geworden, daß wir auf dem geraden Wege nach Görbersdorf sind. Ich bin ihm vorige Woche nachgefahren, um meiner Schwägerin ein wenig beistehen zu können während der weiten Reise.“

Edith preßt die Lippen aufeinander und schweigt, während das liebenswürdige alte Paar sich in bedauernden Phrasen erschöpft.

„Ich hoffe, Görbersdorf wird meinem Manne gut thun,“ sagt die kleine Frau mit verhaltener Stimme.

„Gewiß, gewiß!“ beruhigt die Gräfin sie und erzählt von einer Menge Fälle, bei denen die Anstalt Wunder vollbrachte.

Noch vor dem Dessert erhebt sich Frau von Waldenberg, nachdem sie ihren Schwager flehentlich gebeten hat, sich nicht stören zu lassen; er könne ihr jetzt doch nicht helfen. Aber er erklärt, dem Kranken noch „Gute Nacht“ sagen zu wollen. Das alte Paar sucht sein Zimmer auf; Edith erobert sich einen Stuhl auf der Veranda und schaut in das Gewühl der Promenierenden. Der Hoteldiener hat ihr eben einen Brief gegeben; sie dreht ihn uneröffnet zwischen den Fingern; er ist von Tante Tonette. Sie konnte sonst immer nicht erwarten, Nachrichten aus Wartau zu lesen, heute zögert sie. Edi Waldenberg tritt eben aus der Hausthür und sieht sich suchend um; als er sie erblickt, kommt er langsam näher, und einen leer gewordenen Stuhl erfassend, fragt er: „Gestatten, gnädiges Fräulein?“

Sie nickt. „Wenn’s Ihre Mission erlaubt, Herr von Waldenberg?“

Er überhört den etwas spöttischen Ton und fragt nach ihrem Befinden.

„O, mir geht es sehr gut!“ erwidert sie, „ausgezeichnet! Hoffentlich Ihnen auch?“

„Nein,“ sagt er, „ich hatte so allerlei durchzumachen und – nun jetzt –“

„Das ist schrecklich traurig,“ bemerkt Edith. „Ich kann mir denken, wie Ihre Schwägerin trostlos sein wird – es ist doch ein Glück, daß Sie ihr zur Seite stehen.“

„Ja!“ sagt er ehrlich, „denn ihre Eltern sind tot und Geschwister hat sie nicht – sie verdient wirklich Mitleid. – Nun, und Sie, Fräulein Edith?“ fährt er fort und seine Augen suchen mit traurigem Ausdruck die ihrigen. „Ist’s wirklich wahr? Darf man Ihnen gratulieren?“

„Wozu?“ fragt sie kurz.

„Fräulein von Zobel erzählte mir –“

„Ah! Emma von Zobel! Ich kann es mir denken, ich würde an Ihrer Stelle aber nicht voreilig sein, Herr von Waldenberg.“

„Edith!“ bittet er fast atemlos und biegt sich vor, „Edith, sprechen Sie – ist das, was man da spricht, noch keine Thatsache?“

Sie sieht ihn an mit den wunderschönen Augen. „Noch nicht!“ sagt sie leise.

„Noch nicht? – Aber – also doch möglich, Edith – doch?“

Sie zuckt unmerklich die Schultern.

„Lieben Sie den Mann, Edith?“

„Warum sind Sie so neugierig?“ fragt sie und schaut hinüber zu dem Pilatus, auf dessen Kuppe eben ein Stern aufflammt, das elektrische Licht des Hotels.

„Verzeihen Sie, ich habe allerdings kein Recht,“ entschuldigt er sich in bitterem Tone. Edith antwortet nicht.

Es ist dunkel geworden; eine herrliche wunderbare Luft weht vom See her, die Musik spielt irgend etwas Schmelzendes aus dem „Troubadour“. Neben ihnen lacht ein halbes Dutzend englischer Misses; auf der anderen Seite sitzt ein junges Ehepaar und hält sich verstohlen an den Händen. Edi Waldenberg zündet sich eine Cigarette an und raucht, schweigend in das Publikum starrend. Sie sieht ihn von der Seite unverwandt an, dabei dreht und wendet sie nervös den Brief in ihrer Hand. Warum er auch arm sein, warum dieser schwindsüchtige Bruder heiraten muß, der nun eine schöne junge Frau hinterläßt! Aber vielleicht ist es gar nicht wahr, daß Edi sie wählen wird, vielleicht ist es nur ein boshaftes Gerede? Ach, wenn sie das gewiß wüßte, wenn der Edi Majoratsherr – sie hat ihn ja so furchtbar gern, diesen hübschen, blassen vornehmen Menschen, aber – arm sein kann sie nicht, nur das nicht! Und sie weiß seit den letzten Minuten: er hat sie noch keineswegs vergessen, er liebt sie noch! Warum sollte er diese hinterlassene Frau heiraten? Wer kann das von ihm verlangen?

„Wenn mein Bruder eine gute Nacht hat, reisen wir morgen weiter,“ wendet sich der junge Offizier jetzt an Edith. „Jedenfalls möchte ich Ihnen gleich heute Adieu sagen, Fräulein von Ebradt.“ Er hat sich erhoben und steht nun vor ihr. „Ich darf Ihnen wohl nochmals wiederholen, wie sehr ich mich gefreut habe, Sie einmal wiederzusehen, und den Wunsch aussprechen, daß sich Ihre Zukunft so gestalten möge, wie Sie dieselbe ersehnen. Leben Sie wohl, Edith!“

Sie giebt ihm die Hand, die er an die Lippen führt. Ihr Schmerz, ihn verloren zu haben, ist in diesem Augenblick größer als alle Berechnung; sie findet keine Worte, aber die großen Augen reden eine deutliche Sprache.

Er hält wie verwundert ihre Hand fest. „Edith!“ murmelt er. Aber sie wendet sich rasch ab und geht in das Hotel, so eilig, daß es fast einer Flucht ähnlich sieht. Und dort sucht sie geradeswegs ihr Zimmer auf und läßt sich bei der Gräfin entschuldigen, sie habe Kopfweh und wolle sich legen. Sie birgt den Kopf in die Polster des Sofas und denkt nach, wie sie seit langer Zeit nicht nachgedacht hat; und als sie sich endlich erhebt, ist sie zu dem Entschluß gekommen, daß sie eine furchtbare Uebereilung beging, als sie Mohrmann zu einem Versprechen förmlich zwang vor ihrer Abreise, und daß sie jedenfalls einem öffentlichen Verlöbnis für jetzt entfliehen müsse. Sie liebt ja doch den Edi nur allein, und Gott weiß, ob er – –

Sie wird rot und blaß, das liebe Gesichtchen der Frau von Waldenberg taucht vor ihr auf, die angstvollen, klaren blauen Augen. Sie kommt sich vor wie eine Mörderin, indem sie an den Tod des andern Waldenberg denkt. Aber, was kann sie dafür, daß der Aermste die Schwindsucht hat in so hohem Grade? Es ist ja schon seit langem die Rede davon, daß er sterben muß!

Als sie sich endlich gefaßt hat, erbricht sie den Brief der Tante Tonette. „Mein liebes Kind,“ liest sie beim Schein der elektrischen Lampe, „gestern ist die Scheidung von Mohrmanns ausgesprochen worden vor dem Gericht in Leipzig. Der arme Mensch atmet ordentlich auf; er hat doch wohl sehr unter diesen Verhandlungen gelitten. Deine Wiederkehr steht nun nahe bevor – es wäre mir allerdings lieber gewesen, Du hättest noch länger fortbleiben können, indes wohin? Du hast jetzt nur ihn, denn Tante Josepha, die ich bat, Dir eine kurze Zuflucht im Stift zu gewähren, lehnte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0212.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2020)