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gar nicht zukamen, war in ihrer Gegenwart heiter und aufgeräumt – ja gesprächig. Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, war seine gute Laune dahin. Frau von Kosel machte nun ganz plötzlich die Entdeckung, daß Apollonia zu einem bildschönen Mädchen aufgeblüht war, mit dem unter einem Dache zu leben eine große Gefahr für die Gemütsruhe eines jungen Mannes bedeuten konnte. Sie faßte einen raschen Entschluß. Eines Abends kam Felix von einem dreitägigen Jagdausflug zurück und fand Apollonia nicht mehr im Hause. Sie hatte sich entschlossen, den Bitten einer alten Tante nachzugeben, die schon oft nach ihr verlangt hatte. „Wie du weißt,“ sagte Frau von Kosel.

Er wußte es nicht, er wurde feuerrot und runzelte die Stirn. Das hätte er seiner Jugendgespielin nicht zugetraut, daß sie imstande wäre, ihn zu verlassen ohne ein Abschiedswort. Eine große Bitterkeit gegen sie ergriff ihn, nach und nach fielen ihm aber eine Menge Entschuldigungen ihrer Handlungsweise und ebensoviele Anklagen gegen seine Mutter ein. Er sprach nicht eine aus, er würgte seinen Groll hinunter. Er wurde nur noch stiller und mehr in sich gekehrt, als man in Velice erfuhr, der armen Apollonia sei es bei ihrer Tante so schlecht gegangen, daß sie sich aus Verzweiflung entschlossen habe, den Heiratsantrag eines alten Steuerbeamten, eines Witwers mit fünf Kindern, anzunehmen.

Frau von Kosel erwartete, daß ihr Sohn mit ihr darüber sprechen, ihr vielleicht Vorwürfe machen würde. Er blieb stumm und das beunruhigte sie mehr, als der ärgste Zornesausbruch gethan hätte.

Die kühle, trockene Frau, der niemand imponierte, die sich nie um das Urteil anderer gekümmert und sich ihr eigenes nie hatte beeinflussen lassen, kam dem schönen schweigsamen Sohn gegenüber um alle Sicherheit. Sie hatten ihr ihn doch sehr entfremdet in dem einen Jahre. Er sprach nicht, aber er handelte ihr jetzt oft entgegen und beharrte auf seinen Beschlüssen mit dem Eigensinn des Schwachen.


Stille Jahre verflossen.

Einige Monate brachte Kosel regelmäßig auf Reisen oder in Wien zu, den Rest der Zeit in Velice. Er ließ das Gut durch seine Beamten bewirtschaften, ging auf die Jagd, las Zeitungen und fand sich des Abends am Spieltisch seiner Mutter und seiner Tanten ein. Die Damen würden das Whist erfunden haben, wenn es nicht ein anderer vor ihnen gethan hätte, vermochten aber trotz aller Mühe nicht, Felix in die Feinheiten dieses edlen Spieles einzuweihen.

„Er hat keinen Spielgeist,“ meinten seine Mutter und Renate. Charlotte allein wußte: er hat auch keinen andern. Diese Erkenntnis schädigte ihre Liebe für ihn aber nicht im geringsten.

Jedesmal, bevor er verreiste, ermahnten ihn die Tanten: „Komm’ als Bräutigam zurück!“ Sie wußten, es war der innigste Wunsch seiner Mutter. Er überlegte lange, bevor er ihn erfüllte, und als es endlich geschah und er heimkehrte und ihr die große Nachricht brachte, bebte seine Stimme:

„Bevor der Fasching zu Ende geht, bin ich verheiratet, liebe Mama. Mit Fräulein Friederike Beckmann. Die Tochter des Arztes. Ja, Mama. Du kennst ihn. Im ganzen Land kennt man ihn und achtet ihn.“

Frau von Kosel lehnte sich zurück in ihre Sofaecke, zum erstenmal in ihrem Leben wandelte es sie an, als ob die Sinne ihr vergehen wollten. „Eine Doktorstochter? … Das kann ja nicht sein. Das kann dein Ernst nicht sein.“ Angstvoll starrte sie ihn an. Er hielt ihren Blick nicht aus. Der seine flackerte scheu umher, aber die zuckenden Lippen sprachen mit wohlbewußter Grausamkeit:

„Es ist. Und die kannst du nicht verschwinden lassen.“ Das traf sie ins Innerste. So hatte er ihr nicht verziehn, trug ihr durch all die Jahre nach, daß sie ihm die Gelegenheit zu einer thörichten Liebelei aus dem Wege geräumt? Und hatte geschwiegen die ganze lange Zeit und hatte seinen Groll in sich verschlossen und der Groll hatte die Liebe und das Vertrauen aufgezehrt! Sie empfand das als ein furchtbares Unrecht, das er ihr anthat, und wie kindischen Trotz, daß er sein Herz wieder an eine Unebenbürtige hing, eine Unebenbürtige zur Frau wählte. Aber sie hatte sich daran gewöhnt, ihm nachzugeben, und seinen Eigensinn so lange genährt, bis er sich beinahe zu einer Willenskraft herangebildet hatte. Die starke Frau war ohnmächtig geworden, dem schwachen Sohn gegenüber. Sie beugte ihr Haupt, sie fügte sich, sie sprach: „Bring sie mir.“

Eine unbezwingliche Rührung ergriff sie: „Bring mir aber auch meinen Sohn, den ich verloren habe, wieder.“

Er stand auf, küßte ihr die Hand und sagte in seiner abgebrochenen Weise und eher befangen als bewegt: „Ich dank’ dir … ich werd’ ihr gleich schreiben … ihr gleich die gute Nachricht geben.“

Er ging aber nicht geraden Weges nach seinen Zimmern, sondern über den Bogengang zum Turm an der Ecke des Schlosses, in dem die Tanten sich sehr traulich und mit vielem Geschmack eingerichtet hatten. Den Sibyllenturm nannte ihn Frau von Kosel.

Ein Freudenschrei aus zwei Kehlen empfing Felix, als er in den Salon der Tanten trat. Renate strickte eben Jagdstrümpfe für ihn, Charlotte kopierte seine letzte Photographie wunderhübsch in Oelminiatur.

Der bequemste Fauteuil wurde an den Tisch gerückt für den Herzensliebling, der nach einigen einleitenden: Wie geht’s?

Ah schön! nicht ohne Stocken seine große Neuigkeit vorbrachte.

Die Tanten hatten ihm mit unbeschreiblicher Spannung zugehört und nicht gleich gewußt, ob er im Ernst oder im Spaß spräche.

„Eine Doktorstochter?“ rief Renate mit den Worten ihrer Schwester. „Ach geh!“

Er aber versetzte: „Wartet nur, gute Tanten, wartet, ihr werdet schon sehen!“ Und als er ihnen so herzlich, als er’s überhaupt zuwege brachte, seine Braut empfahl, kamen Renaten Thränen der Rührung in die Augen. Charlotte liebte seine Erwählte jetzt schon und versprach, sie gegen die ganze Welt in Schutz zu nehmen.

Als die zukünftige Herrin von Belice drei Tage später dort erschien, in Begleitung ihrer Eltern, am Arme ihres Verlobten, der die Reisenden auf der Eisenbahnstation abgeholt hatte, war der erste Eindruck auf alle Damen der einer grenzenlosen Ueberraschung. Die Doktorstochter, das wurde ihnen klar auf den ersten Blick, bedurfte ihres Schutzes nicht.

Die drei, die ihr mit so verschiedenen Gefühlen entgegengegangen waren, standen vor einer wahrhaft sieghaften Ueberlegenheit. Sogar Frau von Kosel gestand sich, daß von Herablassung, der Braut ihres Felix gegenüber, nicht die Rede sein könne. Sie war schön, gewinnend, wohlerzogen und bewegte sich in ihrer Wohlerzogenheit nicht wie im Staatsgewande, sondern wie im Alltagskleide.

Die Ehe Felix Kosels wurde sehr glücklich. Es dauerte lang’, bis Friederike zur Erkenntnis kam, daß sich hinter der männlichen und adligen Erscheinung ihres Mannes ein zaghaftes und dürftiges Wesen verbarg, und da sie sich keiner Täuschung mehr über ihn hingeben konnte, war ihre starke und treue Zuneigung schon zu tief eingewurzelt, um erschüttert zu werden, nur einen anderen Charakter nahm sie an. Aus einer Liebe voll Bewunderung und Erwartung wurde eine nachsichtige und fürsorgliche und auch eine dankbare Liebe. Er hatte nicht viel zu geben, aber alles, was er hatte, gab er ihr. Für andere blieb allerdings nichts übrig.

Er fühlte kaum eine Lücke in seinem Leben, als seine Mutter nach kurzer Krankheit starb und die Tanten Belice verließen.

Sie waren nach dem Tode ihrer Schwester mit bleichen Gesichtern und rotgeweinten Augen vor ihren Neffen und vor ihre Nichte getreten und Charlotte hatte gesprochen:

„Ihr werdet gewiß viele Kinderchen bekommen und viel Platz für sie brauchen und Gesellschaft genug haben an euch selbst und an ihnen. Wir wollen fort, meine Teuren, wünschen uns schon lang’, die Welt zu sehen, wir sagen euch Lebewohl.“

Herr von Kosel war erstaunt und auch ein wenig betrübt, Frau von Kosel schloß eine der Schwestern nach der andern ans Herz.

„Geht, wenn die Wanderlust euch treibt! Eure Wohnstätte in der Heimat werdet ihr deshalb nicht verlieren. So lang’ ihr die Augen offen habt, seid ihr Herrinnen im Sibyllenturm, und wer ihn betritt, ist euer Gast.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0199.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2016)