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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Halbheft 7.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Die arme Kleine.

Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.


Im Jänner, am Tage, an dem der Bauernregel nach die erste Regung des Lebens in den erstarrten Bäumen erwachen soll, wurde die Kleine geboren. Ihre Eltern hatten schon drei Söhne, Leopold, Joseph und Franz. Drei Riesen. Der älteste, der große Junge mit den reichen, braunen Haaren, den dunklen Augen, den schönen regelmäßigen Zügen, glich dem Vater. Der zweite, mit dem lichtbraunen Gelock und den blaugrauen Augen, hatte kein Vorbild in der Familie, entwickelte sich auf seine eigene Art zu einem kühnen, prächtigen Menschenexemplar. Der dritte sah der Mutter ähnlich, hatte ein sanftes Gesicht und war hellblond.

„Wenn wir noch einen kriegen,“ sagte Herr von Kosel, „und wenn es so weiter geht in der Schattierung, kommt er mit weißen Haaren zur Welt.“

Er hätte sich übrigens wenig daraus gemacht, wenn einer mit feuerroter Perücke erschienen wäre. Die Angelegenheiten anderer, auch die seiner Kinder, berührten ihn nicht tief; alle lebhaften Interessen, deren er fähig war, konzentrierten sich auf sein eigenes und auf sein zweites Ich, seine Frau.

Die hatte schon ihren dritten Jungen ohne besonderes Entzücken begrüßt. Sie wünschte sich ein Mädchen, ein Kind wenigstens, von dem sie mehr gehabt hätte als nur das Glück, ihm das Dasein zu schenken und es zu betreuen, bis es laufen konnte. Einmal soweit gebracht, waren die Buben ihr auch schon entwachsen und: „Von da an,“ meinte sie, „ist die freiwillige Rettungsgesellschaft völlig imstande, mich bei ihnen zu ersetzen.“ Ihr Jüngster war eben vier Jahre alt geworden, als das ersehnte Töchterlein erschien, langerwartet und – unerwartet. Ende Februar hätte sie kommen sollen, zu Fabian und Sebastian war sie da. Man hatte noch keine Vorbereitungen zu ihrem Empfang getroffen und mußte die Ueberbleibsel der Säuglingsgarderobe ihrer Brüder für sie verwenden. Die kleinste Haube, das winzigste Hemdchen wurden hervorgesucht, sie nahm sich in ihnen aus wie eine Stecknadel im Futteral eines Fernrohrs.

Ihrer Mutter traten Thränen in die Augen, als man ihr die Neugeborene brachte.

„Du arme Kleine!“ sagte sie.

Das war die Vortaufe des Kindleins: „Die arme Kleine“ hieß es fortan, und der schöne Name Angelika, den es drei Tage später durch den Priester in der Schloßkapelle erhielt, blieb ein Paradename, dessen man sich nur bei feierlichen Gelegenheiten bediente.

An die Lebensfähigkeit der überzarten, unreifen Menschenfrucht glaubte anfangs niemand. Nur Apollonia Budik, die Milchschwester und Jugendgespielin Kosels, die schon die drei Löwen oder Bären, wie die jungen Herrchen abwechselnd genannt wurden, aufgezogen hatte, prophezeite: „Sie wird wachsen und gedeihen.“

Die Besorgnisse um das Kind lenkten sich allmählich auch auf seine Mutter. Sie war nach der Geburt eines jeden ihrer Söhne in verjüngter Schönheit wieder aufgeblüht; seit der Geburt der Kleinen kränkelte sie und konnte sich nicht erholen.

Walserthalerinnen.
Nach dem Leben gezeichnet von R. Mahn.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0197.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2024)