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gab trotz der lebhaften Einsprache des Prinzen Wilhelm nach, als eine Deputation von Bürgern in ihn drang, er solle die Truppen aus der Stadt ziehen, sobald mit Räumung der Barrikaden begonnen sei. Er bewilligte die Einrichtung einer Bürgerwehr, zu der sich die Stadtvertretung und die Studentenschaft gleich beim Ausbruch bedrohlicher Unruhen vergeblich erboten hatten, um dem aufreizenden Einschreiten des Militärs Einhalt zu thun. Damals wäre damit die Möglichkeit eines Straßenkampfes beseitigt gewesen, jetzt war es zu spät. Und schon trug man die Opfer des furchtbaren Kampfes heran, indes die Sonntagsglocken zur Buße mahnten und die helle Frühlingssonne auf die blutgeröteten Straßen schien.

Auf blumengeschmückten Bahren hatte man die gefallenen Barrikadenkämpfer gebettet; ein düsterer Trauerzug bildete sich und nahm seinen Weg zum Schlosse. „Die Volksmenge, durch welche die Träger hinschritten, stand lautlos; ehrfurchtsvoll nahm ein jeder den Hut ab, die Lippen bebten, in den Augen zitterten Thränen, nur die festen Schritte der Träger hallten im Schloßhof wieder und von Zeit zu Zeit der Name eines der Gefallenen, von einem der Träger ausgerufen.… Schon hatte sich der innere Hof,“ berichtet weiter ein Augenzeuge, „in welchen die Wendeltreppen zu den königlichen Gemächern führen, mit Bahren und blutigen Leichen gefüllt, als das Volk nach dem König zu rufen begann. Der Fürst Lichnowsky, welcher, nachdem der Kampf vorüber war, mit einigen der Barrikadenhäupter fraternisiert hatte, versuchte es, seine guten Freunde zu bedeuten, daß Se. Majestät sich zurückgezogen hätte und daß man ihr einige Ruhe gönnen möge. Aber der Ruf: ‚Der König soll kommen!‘ erscholl mit verzehnfachter Gewalt, daß die Schloßfenster davon erzitterten. Schon nahmen die Träger die Leichen wieder auf und schickten sich an, dieselben die Wendeltreppen hinauf in die königlichen Gemächer zu tragen, da erschienen oben auf der Galerie die Grafen Arnim und Schwerin, um zu beschwichtigen, vermochten aber nicht gegen die höher und höher schwellende Flut aufzukommen. ‚Der König! Der König soll kommen!‘ gellte und grollte es immer drohender. Da trat auf die offene Galerie heraus der tiefgebeugte Monarch, an seinem Arm die vor Angst und Entsetzen bleiche Königin. ‚Mütze ab!‘ Er entblößte das Haupt. Die Träger nahmen die blutigen Leichen wieder auf, sie hoben die Bahren hoch zu dem König empor unter schrecklichem Zuruf der Männer und dem Wehklagen der Frauen: ‚Gieb uns unsere Brüder! Unsere Väter, unsere Söhne, unsere Männer gieb uns wieder!‘ Der König und die Königin vermochten nur mit Thränen das tiefgefühlte Beileid des gebrochenen Herzens zu bezeigen. Da plötzlich stimmte das Volk den Choral an: ‚Jesus, meine Zuversicht‘ – der König verweilte mit unbedecktem Haupt, bis der feierliche Totengesang geendet, und führte dann die kaum sich noch aufrechthaltende Königin in ihre Gemächer zurück.“

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Umritt König Friedrich Wilhelms IV durch die Straßen von Berlin.
Mit Benutzung eines gleichzeitigen Bildes der „Illustrierten Zeitung“ gezeichnet von H. Binde.

Was in diesen Stunden Friedrich Wilhelm gelitten, er, der bisher mit dem Stolz eines Coriolan den berechtigtsten Volksforderungen gegenüber gestanden, hat sicher jedes Maß des Ertragbaren überstiegen. Er fand seine Aufrichtung in dem Gedanken, daß er auch diese Demütigung als Opfer dem gewaltigen Umschwung aller Verhältnisse in Deutschland habe darbringen müssen, der ihn jetzt nach seiner Ueberzeugung an die Spitze eines neuzugründenden Deutschen Reiches berief. Seine Phantasie berauschte sich, wie Sybel es ausdrückt, „mit glänzenden Bildern von der Wiederherstellung des heiligen römischen Reiches in seiner ganzen Pracht“. Es drängte ihn, die Aufmerksamkeit seiner Berliner, wie Deutschlands, der Welt, von dem Jammer des unseligen Straßenkampfes auf die neue Zeit zu lenken, die jetzt unter seiner Leitung für Deutschland anbrechen sollte. Das neue Ministerium, in das neben den genannten Grafen Arnim und Schwerin noch einer der Führer der Opposition im „Vereinigten Landtag“, A. v. Auerswald, und Heinr. v. Arnim eintraten, unterstützte ihn darin. Am 21. erließ er eine neue Proklamation und erklärte: „Rettung aus unseren Gefahren kann nur aus der innigsten Vereinigung der deutschen Fürsten und Völker unter Einer Leitung hervorgehen. Ich übernehme heute diese Leitung für die Tage der Gefahr. Mein Volk, das die Gefahr nicht scheut, wird mich nicht verlassen, und Deutschland wird sich mir mit Vertrauen anschließen. Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und mein Volk unter das ehrwürdige Banner des Deutschen Reiches gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf!“

Das wollte er aber auch aussprechen in feierlicher Rede, persönlich, öffentlich! Er that es noch vor der Ausgäbe der gedruckten Proklamation. Durch den neuen Kultusminister Grafen Schwerin ließ er am Morgen des 21. den in die Aula zusammenberufenen Studenten verkünden, der König werde noch am selben Vormittag zu Pferde im Schmuck der „alten, ehrwürdigen Farben deutscher Nation“ in den Straßen Berlins erscheinen, um damit zu bezeugen, daß er sich an die Spitze des Gesamtvaterlandes zur Rettung desselben gestellt habe. Gegen 11 Uhr begann der Umzug. Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet. Vorm Schloß erwartete die Menge den König. In Gardeuniform, ein breites schwarz-rot-goldnes Band um den Arm geschlungen, sprengte er aus dem Schloßhof hervor, in der Hand eine schwarz-rot-goldne Fahne. Mit dem gleichen Abzeichen am Arm geschmückt, folgten ihm Prinzen, Minister, Generale. Ein Bürgerschütze in Civil übernahm die Fahne, um sie voranzutragen. Auch die Bürgerschaft hatte schwarz-rot-golden geflaggt. Der Zug bewegte sich über die Schloßfreiheit, durch die Behrenstraße und über die „Linden“ zurück. Ueberall sah sich der König umjubelt. An der Königswache redete er die Bürgerwehr an, am Universitätsgebäude die Studenten. Er betonte, daß er „nichts usurpieren“ wolle, nur deutsche Einheit und Freiheit wolle er schützen! Als jemand ein Hoch auf den neuen „Kaiser von Deutschland“ ausbrachte, sagte er ablehnend: „Nicht doch, das will, das mag ich nicht!“ Und wieder betonte er seine Ueberzeugung, daß ihm die Herzen der Fürsten entgegenschlagen und der Wille des Volkes ihn unterstützen werde.

Es war eine furchtbare Selbsttäuschung. Hatte ihn die blutige Nacht vom 18. März weitum im deutschen Volk um frisch grünende Sympathien gebracht, so brachte dieser Umritt vom 21. mit seinen Reden ihn um das Vertrauen auch jener Fürsten, die ihn sonst willig als Oberhaupt eines neuen Deutschen Reiches begrüßt hätten.

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0191.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2020)