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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Wie das erste Deutsche Parlament entstand.

Ein Rückblick von Johannes Proelß.
Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
III.0 Märzstürme und Märzerrungenschaften.

Das Bild vom anbrechenden Völkerfrühling, das kurz vor der Pariser Februarrevolution Welckers Rede über die Notwendigkeit eines Deutschen Parlaments vor den badischen Abgeordneten entrollte, drängt sich auch heute der rückschauenden Vorstellung auf, wenn sie sich den wunderbaren Umschwung der deutschen Zustände im März des Jahres Achtundvierzig vergegenwärtigt. Von welchem politischen Standpunkt aus der heutige Deutsche auch die sich überstürzenden Vorgänge betrachten mag, er wird inne, daß der erlösende Lenzhauch jener Tage in der That ein Befreier war, daß Rechte und Freiheiten, die er jetzt als selbstverständlich ausübt und genießt wie er die freie Gottesluft atmet, im Wirbelsturm jener Tage für ihn miterrungen wurden von einem Geschlecht, welches diese Errungenschaften entbehrt hatte wie der Gefangene die freie Luft. Wer aber gar als Veteran jener Kämpfe vor fünfzig Jahren auf sie zurückblickt, dem rötet sich in freudiger Erregung die Stirn unterm weißen Gelock und sein Auge strahlt hell – Frühlingsherrlichkeit vor sich!

Das war ein März, in dem sich der Frühlingsglaube des Uhlandschen Liedes auf alle Lebensverhältnisse übertrug: „Die Welt wird schöner mit jedem Tag, man weiß nicht, was noch werden mag – nun muß sich alles, alles wenden!“ Man sah in Erfüllung gehn, was das Seherwort Ferdinand Freiligraths vier Jahre vorher verkündet, als er den Hoffnungen und Beschwerden des deutschen Volkes in seinem „Glaubensbekenntnis“ die Glutsprache seines Genius lieh:

„Der Knospe Deutschland auch, Gott sei gepriesen!
Regt sich’s im Schoß! Dem Bersten scheint sie nah’ –
Frisch, wie sie Hermann auf den Weserwiesen,
Frisch, wie sie Luther auf der Wartburg sah!
Ein alter Trieb! Doch immer mutig keimend,
Doch immer lechzend nach der Sonne Strahl,
Doch immer Frühling, immer Freiheit träumend –
O, wird die Knospe Blume nicht einmal? – –

Der du die Blumen auseinanderfaltest,
O Hauch des Lenzes, weh auch uns heran!
Der du der Völker heil’ge Knospen spaltest,
O Hauch der Freiheit, weh auch diese an!
In ihrem tiefsten stillsten Heiligtume
O küss’ sie auf zu Duft und Glanz und Schein –
Herrgott im Himmel, welche Wunderblume
Wird einst vor allen dieses Deutschland sein!“

Man muß den ganzen Druck der vorausgehenden Winterstarre nachempfinden können, um den Jubel, den die ersten „Märzerrungenschaften“ allüberall im deutschen Volke weckten, wirklich zu begreifen. Man muß den Ueberschwang, den Enthusiasmus dieses Frühlings- und Freiheitsrauschs sich abheben lassen von der Trostlosigkeit, mit welcher Heinrich v. Gagern in die Metternichsche Zeit hineinfragte: „Wo ist bei uns, was der Freiheit gleicht?“ Man muß in den Enthüllungen von Märtyrern der Censur, wie Struve und Held, in den Reden der Vorkämpfer der Preßfreiheit, wie Welcker und Mathy, nachlesen, bis zu welch empörendem Gemisch von Tyrannei und Dummheit die Bevormundung des geistigen Lebens entartet war, um den Jubel zu begreifen, mit dem nicht nur in der Presse, von Schriftstellern und Gelehrten, sondern im ganzen Volke die endliche Gewährung der Preßfreiheit begrüßt wurde. Als im badischen Landtag bereits am 1. März Minister Bekk die Preßfreiheit verkündigte, da war das Karlsruher Ständehaus von einer nach Tausenden zählenden Menge umlagert, in der sich auch zahlreiche Bauern aus dem Schwarzwald und vom Bodensee befanden. Sie waren nach Karlsruhe gekommen, um durch ihre Anwesenheit für die Abschaffung von Robot und Zehnten zu wirken; aber auch für sie war „Preßfreiheit“ ein goldnes Wort; sie waren längst darüber aufgeklärt, was es wert sei, ungestraft drucken lassen zu können, was man von Sorgen und Beschwerden auf dem Herzen hat. Und als nun das erlösende Wort feierlich vom Ministertisch aus in den Ständesaal klang, da „pflanzte sich der Jubel über die Freudenbotschaft aus dem Saal durch die zum Erdrücken vollen Gänge fort und hallte wie ein Echo von der außen harrenden Masse zurück“. Der Vorsitzende Mittermaier sprach sich los von der Geschäftsordnung; mit Thränen im Auge rief er, nach dem Bericht W. Zimmermanns: in solch heiligem Augenblick dürfe man dem Ausbruch des Gefühls nicht wehren! In Wien weckte das kaiserliche Manifest, welches Oesterreich in die Reihe der konstitutionellen Staaten erhob, „eine Begeisterung ohnegleichen, wahre Volks- und Völkerverbrüderungsfeste! Menschen, die sich nicht kannten, umarmten sich weinend vor Freude. Aller Nationalhaß war weggezaubert, es gab keine Böhmen, Ungarn, Italiener, Polen, Deutsche – nur Oesterreicher, ein Herz und ein Sinn!“ Die vor der Universität versammelten Studenten knieten auf offnem Platz zu einem Dankgebet nieder. Als in Berlin, kurz vor dem unglückseligen „Mißverständnis“, das in zwölfter Stunde doch noch den Straßenkampf entfesselte, die beschleunigte Einberufung des Landtags, die Absicht der Bundesreform und das liberale Preßgesetz verkündigt wurden, ergoß sich alsbald aus den Häusern eine jubelnde Volksmenge auf die Straßen, vom Bedürfnis nach gemeinsamer Aeußerung der Freude getrieben. „Einer rief dem andern die frohe Botschaft zu,“ berichtet Rellstab, „eine Umarmung, ein Händedruck folgte dem andern. Selbst Fremde reichten sich die Hand zum warmen Druck, umarmten einander herzlich in diesem alle verbindenden Gefühl höchsten vaterländischen Glückes.“

Da und dort ließen Standesherren sich vernehmen, die freiwillig auf altererbte Privilegien zu Gunsten der Bauern verzichteten; die engen Zirkel der Beamtenwelt öffneten sich einem freieren Verkehr mit dem Bürgertum. Es war die Freude, von der Schiller singt, daß sie die Menschen verbrüdere, daß sie wieder vereine, was die Mode streng geteilt, deren Zauber man auf den tausend Jubelfesten empfand, auf denen die bisher verbotenen Vaterlandslieder nun frei und hell erklangen und die Teilnehmer sich wie neugeboren fühlten im Vorgenuß der Freiheitsrechte, die ihnen so plötzlich gewährt waren! Sie leuchtete durch die Reden, welche in den Bürgervereinen, den Sänger- und Turngemeinden, den nun entstehenden politischen Klubs die neue Zeit dankbar begrüßten; die neue Zeit mit ihrer Gleichberechtigung der Stände und der Konfessionen, mit ihrer Erlöstheit von der unerträglichen Polizeiwillkür, die bisher in Handel und Wandel jede freie Bewegung gehemmt und den Professor und Journalisten, der das „zerstückelte“ Deutschland beklagte, ebenso als Verbrecher hatte behandeln dürfen wie den braven tüchtigen Handwerksburschen, der sein Brot in der Fremde suchte und in jedem deutschen Land, das er außer der Heimat betrat, ein mißtrauisch bewachter „Ausländer“ war.

Und welche schwärmerischen Hoffnungen knüpften sich nicht im Volke an das Symbol der einstigen und der nahenden neuen Reichsherrlichkeit, an das Schwarz-rot-gold, das jetzt ungehindert in den Sälen und an den Häusern als freudig bestaunter Schmuck sich hervorwagte! Noch lebten in der Schweiz, England, Belgien und Amerika viel hundert Deutsche unter dem Drucke des Flüchtlingselends, die nur deshalb zu ihm verdammt worden waren, weil sie ein schwarz-rot-goldnes Band als Zeichen ihrer Sehnsucht nach einem freien einigen Deutschland getragen hatten. Noch bis ins Jahr Achtundvierzig saßen auf deutschen Festungen patriotische Männer gefangen wegen ihrer Teilnahme am Hambacher Fest, auf welchem voreiliger Uebermut eine schwarz-rot-

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0147.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2020)