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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

(4. Fortsetzung.)


Christel geht neben den Männern, die den schweren Körper ihres Mannes tragen, die Treppe hinunter, ihre Augen haften auf seinen schmerzgequälten Zügen, und als er drunten auf dem Bette liegt, tritt sie helfend zu dem Arzt, der ihn eben entkleiden will. Mit einer raschen Bewegung nimmt sie den unseligen Brief aus der Tasche des Rockes und birgt ihn in der ihrigen. „Was ist jetzt das nötigste?“ fragt sie dann ruhig.

Der Arzt hat eben den Rockärmel aufgeschnitten. „Aether,“ sagt er, „überhaupt den Medizinkasten, dann Eis – Leinwand, Binden –“

Christel geht und kommt rasch mit dem Gewünschten zurück. Anton ist aus seiner Ohnmacht erwacht und starrt auf Christel. „Erschrick nur nicht,“ murmelt er, „es ist nichts – es thut mir nur so weh.“

Sie steht völlig teilnahmlos; da streckt er die gesunde Hand nach ihr aus. „Arme Christel, welche Last für dich!“

Auch hierauf keine Antwort. Er beachtet es nicht, unter der Hand des untersuchenden Arztes stöhnt er auf und preßt Christels Arm in seiner Qual. „Christel, ich halt’s nicht aus!“

„Doch!“ sagt sie heiser, „du glaubst nicht, was man aushalten kann.“

„Und liegen soll ich? Wie lange soll ich liegen, Doktor?“

„Ein Wochener acht bis zehn,“ ist die prompte Antwort des derben Herrn, „und ein Krankenlager wie das Ihre wird – so stelle ich mir vor – ein Vergnügen sein unter Frau Christels Händen.“

„Ja, ich pflege dich, natürlich, ich pflege dich!“ murmelt sie.

Die Schmerzen übermannen ihn so, daß er nichts mehr hört und der Arzt zu Chloroform seine Zuflucht nimmt, um die Untersuchung fortsetzen zu können. Christel hilft ihm. Anfänglich liegt Anton still, dann fängt er an zu schreien, sich zu wehren, endlich wird er ruhiger, aber er spricht – und was er spricht! Christel kann sich kaum auf den Füßen halten vor brennender Scham.

Nach Fränze ruft er, nach Edith – „mein Lieb, mein Leben!“ Er schilt auf Christel, sie soll ihm aus dem Lichte gehen, immer stehe sie da und verdecke Edith. „Geh! Geh!“ schreit er, „ich kann dich nicht sehen, ich kann dich nicht mehr sehen! Bringt sie fort, bringt sie doch fort!“

„Die meisten Menschen schimpfen in der Chloroformnarkose,“ sagt gelassen der Arzt, „die zartesten Damen gebrauchen manchmal Ausdrücke, deren Kenntnis man gar nicht bei ihnen vorauszusetzen wagt, sie haben sie auch thatsächlich im Leben nie ausgesprochen. Lassen Sie sich also nicht irritieren, Frau Christel, diese Edith ist ihm vermutlich in Wahrheit so gleichgültig wie der Spatz auf dem Dache.“

Christel antwortet nicht, sie macht nur eine abwehrende Handbewegung, und als nach längerem Bemühen der Arzt endlich erklärt: „Gott sei Dank, so schlimm ist’s nicht, wie es aussah; Frau Christel, Ihr Mann kann von Glück sagen. Nur das rechte Schlüsselbein ist gebrochen und eine starke Quetschung der Schulter und des Oberarmes vorhanden, mehr schmerzhaft als gefährlich!“ Da atmet sie auf. „Wie lange, glauben Sie, Herr Doktor, daß er damit zubringen wird?“ fragt sie.

„Na, heut’ und morgen kann er freilich noch nicht wieder in eine brennende Scheuer rennen, um den Flederwisch, die Baronesse Edith, herauszutragen, aber –“

„Die Edith?“ unterbricht Christel, während sie den Kranken anschaut, der wieder leise zu phantasieren beginnt.

„Das wissen Sie noch gar nicht?“ fragt der Arzt, indem er kunstgerecht den Verband mit einer Sicherheitsnadel befestigt. „Ich war zufällig zugegen, kam kurz vor dem Ausbruch des Feuers auf den Altwitzer Hof. Die Enkelin ist ein wenig bleichsüchtig, und die Gräfin hatte mich gebeten, mit vorzusprechen. Sie wissen doch, die alte Dame hat jetzt ihre Enkeltochter bei sich, ein ganz merkwürdiges Exemplar eines Backfischs, dieser an und für sich schon merkwürdigen Species. Die beiden Flederwische, die Edith von oben, in der übrigens Rasse steckt, und die lange Blasse, die eine ausgesprochene Vorliebe hat für Tiere, besonders Hunde, sind natürlich bei Ausbruch des Feuers wie besinnungslos hinuntergestürzt und Edith hat der Komtesse geholfen, das Vieh aus den Ställen zu retten. Es ist ja den beiden Mädels zu danken, daß das schwerfällige Pack der Knechte fast alles retten konnte, was da lebt. Die jungen Damen wiesen ihnen erst, daß man den Pferden das Geschirr auflegen muß, um sie überhaupt ’raus zu kriegen; aber ehe das dumme Viehzeug begreift, was es soll, hat ein Gaul nach der Komtesse geschnappt, ein ungebildeter Ackergaul, und sie eklich gequetscht am Oberarm. Das arme Ding war plötzlich kampfunfähig und ich brachte sie in das Herrenhaus. Plötzlich schreit sie Edith zu, die eben vom alten Grafen aus dem immer toller werdenden Tumult geführt wird: ‚Edith, in der Scheuer – der kranke Marko, der kranke Marko!‘ Das ist der große Neufundländer, der die Räude hat und zu welchem mich, in meiner Eigenschaft als Arzt, die Komtesse durchaus schleppen wollte, weil sie zu dem Specialisten der ‚Unvernünftigen‘ nicht genug Vertrauen hat. Und da – die Baronesse sich losreißen, mitten durch den Tumult stürzen, die kleine Thür des Thorflügels der bereits lichterloh brennenden Scheuer aufreißen und in dem Qualm verschwinden, war das Werk eines Augenblicks. Drei bis vier Männer stürzten hinterher, allen voran aber –“

„Mein Mann,“ sagt Christel.

„Ihr Mann,“ bestätigt der Arzt, der sich erschöpft gesetzt hat. Christel sieht erst jetzt, daß er von Rauch geschwärzt ist, daß seine Kleider naß sind.

„Und als er das Fräulein herausgetragen hat, springt er nochmals hinein und zerrt den halberstickten jammervollen Köter heraus und just in diesem Augenblick bricht ein brennender Balken herab und schlägt ihn zu Boden. Er kam bald wieder zu sich und ich nahm ihn in meinen Wagen und brachte ihn her, Fräulein von Wartau und das Unglückskind, die Edith, dazu, die übrigens putzmunter ist und, außer der angesengten Kledasche, keinen Schaden gelitten hat. Nun, Frau Christel, geben Sie mir ein Gläschen Cognac; ich muß nochmal hinüber nach Altwitz; aber auf dem Rückwege spreche ich wieder hier vor; inzwischen wundern Sie sich nicht: ehe er ganz wieder aus der Narkose erwacht, schwatzt er möglicherweise noch mehr dummes Zeug.“

Christel bringt den Cognac, dann besorgt sie trockene Kleidung für den alten Herrn. „Ja, so ein falsch dirigierter Wasserstrahl von der Wartauer Spritze bei zwei Grad Kälte – na, schaden wird’s nicht,“ meint er, „meine Alte muß mir eine kalte Einwickelung machen, probatum est. Auf Wiedersehen, Frau Christel!“

In dem Krankenzimmer ist es ganz still jetzt; Christel sitzt auf einem Stuhl zu Füßen von Antons Bette. Sie hat die Hände ineinander gelegt und sieht an ihm vorüber auf das Nachtlicht, das hinter dem durchsichtigen Porzellanschirmchen zuckt und flackert. Sie kann noch immer nicht klar denken, ihr Kopf schmerzt, wie im Krampf haben sich die Nackenmuskeln zusammengezogen. Das eine nur steht mit unanfechtbarer Gewißheit in ihr fest, daß sie fort muß von ihm. Aber das Wie? Das Wann? Und das schreckliche Bewußtsein ihres Unglücks! Könnte sie doch mit einem einzigen Menschen darüber sich aussprechen, aber mit wem? Mit Schwester und Schwager? Zu letzterem hat sie noch das meiste Vertrauen. Doch bei der Vorstellung, daß sie sagen muß: „Ich will mich von Anto trennen“, fährt eine brennende Glut über ihr Antlitz. Sie hört den Schwager fragen: „Warum, warum, Christel?“ – „Er liebt mich nicht mehr, er hat mich nie geliebt!“

Sie stöhnt dumpf auf. Wär’ sie doch lieber gestorben! Könnte sie doch sterben! Sie schämt sich, sie schämt sich so, ihr ganzes Leben kommt ihr entweiht vor. Das heilige Sakrament, das sie verbunden hat mit ihm, der Altar, vor dem sie mit ihm gestanden, ihre ganze einfache Welt, in der sie so treu gewaltet – besudelt, verdorben! Und die Erinnerung zieht sie zu Boden, die Erinnerung an das, was sie ihm war – ohne seine Liebe.

Sie steht plötzlich auf, rafft ein Tuch vom Sofa und ist

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0134.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2020)