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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

der sogenannten Gesellschaft – wollte er noch immer nichts wissen. Nur keine eleganten Sportgigerln und Modedamen zum Umgang hier im grünen Wald, in der freien, tannenduftigen Luft! Wenn er so auf seinen einsamen Pfaden dahinschritt, mußte er manchmal vor sich hinlachen. „Ja,“ gestand er sich selbst, „ja, es ist Zeit, daß ich ein Ende mache, daß einmal Ernst wird! Ich will ja gar nichts Besseres. Ruhe muß einmal werden, ein Haus will ich haben, und Kinder! O ja, heiraten werd’ ich schon, so bald als es nur geht! Aber frisch muß sie sein und unverdorben, und darf nicht immer denken: Steht mir das auch originell, und bin ich so nur recht pikant?“ Und so bei sich denkend, war er rüstig weitergeschritten. –

Aber endlich, nach vierzehn Tagen stummen In-die-Welt-hinauslaufens, waren ihm die zweibeinigen, aufrechtgehenden Lebewesen doch wieder interessanter geworden, und er fing an, die Mariaschutzer „Kurgesellschaft“ neugierig zu mustern. Es war nicht viel an ihr zu sehen. Ein paar Wiener, Grazer und Wiener-Neustädter Bürger und Spießbürger; das männliche Geschlecht nur in älteren Exemplaren vertreten, Kinder in Menge und eine stattliche Anzahl junger Damen, von denen jedoch vorläufig keine einen Eindruck auf ihn machte.

Er stellte bald bei sich fest, daß das Publikum in drei Gattungen zerfiel: in die Vielessenden, welche die Mahlzeiten offenbar für den Hauptzweck ihres Aufenthaltes ansahen und so ziemlich alle zwei Stunden eine hielten; in die Vielgehenden, die es thaten wie er, und endlich in die müßig und offenbar sehr gelangweilt Herumstehenden.

Deshalb fiel ihm bald eine aus Vater, Mutter und Tochter bestehende Familie besonders auf, die er in keine der drei Gattungen einreihen konnte. Sie marschierten zwar ganz ausgiebig, machten aber durchaus keinen Sport aus der Sache; sie aßen nur viermal des Tags, zwar anscheinend gut und mit bestem Appetit, aber doch ohne Uebereifer und Uebermaß. Und schließlich – und das war das Merkwürdigste – sie wurden alle drei sehr häufig mit Büchern in den Händen gesehen – mit Büchern, in denen sie sogar lasen, und zwar mit einem unverkennbaren Ausdruck des Vergnügens und Interesses lasen. Ernsthaft lesende Menschenkinder – wie lächerlich – wie unmodern! Selbst unter den Mariaschutzer Spießbürgern unmodern! Und sie sahen gar nicht so aus, als ob nur leichte französische und englische Romane ihre Lektüre bildeten – sie sahen sehr gut aus, sehr fein, sehr intelligent – es waren weitaus die nettesten Leute in ganz Mariaschutz. Ja, er hatte überhaupt schon lange, schon sehr lange nicht so nette Leute gesehen. Die junge Dame nun schon gar, aber auch die Eltern waren sehr, sehr nett, und er studierte die kleine Gesellschaft immer eifriger.

An dem alten Herrn (Paul taxierte ihn auf drei- oder vierundsechzig Jahre) war eben nicht viel auffallend, außer seinen gescheiten, gutmütigen Spötteraugen. Die Frau aber, gewiß gut um zehn Jahre jünger, konnte Paul gar nicht oft genug ansehen: so ein feines, liebes, gutes Matronengesicht! Etwas verblüht, aber man sah, daß sie einmal sehr hübsch gewesen sein mußte, hübscher noch als ihre hübsche Tochter. Und wie sie sich trug! Strahlend von Nettigkeit und mit so außerordentlicher und dabei so geschmackvoller Einfachheit, daß Paul, der ein feines Auge für weibliche Kleidung besaß, nie eine besser angezogene Frau gesehen zu haben meinte. Die junge Dame nun – ein sehr junges Ding noch, wie Paul meinte, allerhöchstens neunzehn (er irrte aber, sie war einundzwanzig vorüber) – war sicherlich allerliebst, und ebenso sicher war ein großer Teil dieser angenehmen Eigenschaft auf ihre strahlende Jugendfrische zurückzuführen. Immerhin: die große, kraftvoll geschmeidige Figur, deren Bewegungen die unbefangenste Anmut zeigten, und die hellleuchtenden blauen Augen mit ihrem treuherzigen Blick waren an sich sehr schön. Sie trug immer hellfarbige Leinwandblusen, Lodenröcke und einen weißen Knabenhut, einen sogenannten „Girardi“, und schien zu jenen beneidenswerten weiblichen Wesen zu gehören, denen alles steht, aber die Einfachheit am besten.

Wie gesagt, sie gefiel Paul (wem hätte auch das frische Ding nicht gefallen?), aber das war’s nicht, was den Verwöhnten immer wieder mit Augen und Gedanken zu der kleinen Gruppe zurückkehren ließ. Die drei – es waren merkwürdige Leute! Vor allem genügten sie sich selbst, hatten offenbar gar kein Verlangen, mit irgend einem andern ein überflüssiges Wort zu sprechen, und das Wort „Langeweile“, das Paul auf den Gesichtern der Mariaschutzer Sommergäste gerade so deutlich las, wie er es in den Salons und in eleganten Weltbädern auf viel fashionableren Gesichtern gelesen hatte – das Wort schienen sie einfach nicht zu kennen. Sie hatten sich immer etwas zu erzählen, hatten immer etwas zum Lachen, wohl auch zum Spotten – aber sehr weh mochte dieser Spott wohl nicht thun. Oder sie saßen in schönster Eintracht und lasen, oder der Alte blies, in Gedanken verloren, seine Rauchwolken vor sich hin, während die beiden Damen mit Handarbeiten beschäftigt waren, und dazwischen schauten sie mit so hellen und interessierten Augen um sich und das kleinste Ereignis bereitete ihnen sichtlich so viel Spaß und Unterhaltung, daß auch Paul anfing, das Mariaschutzer Kurleben außerordentlich interessant zu finden – nämlich im Spiegel dieser drei Augenpaare.

Auf den Spaziergängen – er war ihnen manchmal in bescheidener Entfernung gefolgt – wurde meist eine eifrige Unterhaltung geführt; manchmal freilich war’s wieder ganz still, aber üble Laune oder Mangel an Gesprächsstoff waren schwerlich die Ursachen. Dann ging das Mädchen wohl mit ihrem raschen leichten Schritt ein Stückchen voraus, pflückte sich da eine Glockenblume, dort eine rotleuchtende Cyklame, sang mit leiser Stimme, ein paar Takte vor sich hin – und kehrte dann zu den Eltern zurück, den Schritt nach den ihrigen richtend und im öfteren Umblicken an ihrem Gespräch teilnehmend.

Ueberhaupt hatten die drei eine Art, sich anzusehen, sprechend und lachend, oder auch ganz ruhig, wenn eins von ihnen etwa ins Haus ging, während die anderen ihm nachsahen – mit freundlich heiteren, durchaus nicht sentimentalen oder überschwenglichen Blicken, aus denen aber Paul doch die Ueberzeugung schöpfte, daß jedes von ihnen für jedes nötigenfalls ins Feuer gehen würde. Und diese Thatsache, die ihn doch gar nichts anging, ihm eher hätte ein wenig lächerlich erscheinen sollen, erfüllte ihn mit einem sehr merkwürdigen Wohlbehagen.

Dazu kam noch, daß der alte Herr eines Tages seine Tochter beim Namen rief: „Emma!“ Nun war die Eroberung Paul Weilheims vollständig – Emma! Emma! So ein guter alter deutscher unverstümmelter und unverschnörkelter Rufname. Es war großartig!

„Franz!“ rief er laut dem Kellner (es war Frühstückszeit und „seine“ Familie saß nicht weit von ihm), dann leise zu dem Herbeigeeilten: „Wer sind die Herrschaften dort?“

Der durch schöne Trinkgelder anhänglich gemachte Franz beeilte sich, Auskunft zu geben: „Herr Doktor Freisinger – Hof- und Gerichtsadvokat – aus Wien! Kommt schon den dritten Sommer her!“

Doktor Freisinger? … Paul dachte nach. Freilich, von dem hatte er schon gehört (Pauls Schwager war einer der gesuchtesten Rechtsanwälte Wiens). Aelterer Advokat schon – nichts Lärmendes, Reklamesüchtiges wie sein Herr Schwager – aber schönes solides altes Geschäft – großartiger Ruf – aha, weiß schon! Und Paul sah sich, der Abwechslung halber, „seine drei“ mit erneuter und verstärkter Aufmerksamkeit an – und sein Entschluß war gefaßt.

„Seinen Leuten“ war zwar ganz entschieden eine stumme und doch deutliche Abwehr aufgeprägt, aber, wenn man nur will und wenn man nicht schüchtern ist – und Paul in seiner Eigenschaft als „große Partie“ hätte es wirklich schwer gehabt, schüchtern zu bleiben – da geht’s schon. Und es ging wirklich. Erst ein ausgesucht höflicher Gruß bei Begegnungen („wie reizend die Kleine dankt!“), dann ein gegen den alten Herrn hingeworfenes Wort über die Wetteraussichten für den Tag, über den Nebelstreifen oberhalb des Schneebergs. Dank den getreuen Kellnern war zur Mittagszeit der Tisch neben dem Freisingerschen bald erobert – und kurz, ein kleiner Schritt folgte dem andern, ein Wort gab das andere – und drei Tage nach seinem Entschluß stand Paul drüben an „seinem“ Tisch – die Freisingers wußten selbst nicht zu sagen, wie dieses Attentat auf ihre Ruhe und Ungestörtheit erfolgt war – und stellte sich in seiner weltmännischen Manier, einer hübschen Mischung von Freundlichkeit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0118.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2020)