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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Spältchen weit auf, und Sie können vielleicht mehr sehen, als Sie denken!‘

‚Und mehr, als mir erwünscht ist!‘ warf ich finster hin.

‚Und wenn es so ist, dann ist auch das ganz gut,‘ sagte die Alte in ihrer resoluten Art. ‚Dann wissen Sie, woran Sie sind – Klarheit über alles – Sie wissen, das ist mein Lebensmotto und soll heute abend auch das Ihrige sein! Gehen Sie nur, lieber Sohn, so eine Herrentoilette dauert ja nicht ewig und drei Tage – putzen Sie sich möglichst bethörend an und versuchen Sie Ihr Heil! Nützt’s nichts, so schadet’s auch nichts – die Sache sitzt Ihnen nun doch mal tiefer, als ich gedacht habe – na – wird’s?‘

Ich zögerte.

‚Es ist unmöglich!‘ sagte ich dann, ‚ich habe heute mittag dem Schneider sagen lassen, ich brauchte meinen Fra Diavoloanzug heute abend nicht – er könnte andere, dringendere Arbeit dafür fertig machen, da ich den Ball aufgegeben hätte – ich habe also gar kein Kostüm!‘

Die alte Dame sprang lebhaft auf.

‚Dann nehmen Sie das meinige – gehen Sie als Hexe, Rotenberg, das ist ja ein Hauptspaß! Niemand vermutet Sie hinter der unkleidsamen Maske – viel kleiner als Sie bin ich auch nicht – und denken Sie mal, was Sie für Beobachtungen machen können! Das ist ja eine famose Idee – das thun wir!‘

Ich stand unschlüssig – der Gedanke lockte mich denn doch, gerade um seiner Abenteuerlichkeit willen; ich war so recht in der innerlichen Verfassung, wo man gern mal va banque um den Augenblick spielt – und Fräulein von Stettendorf ließ mir auch gar keine Zeit, mich sehr zu besinnen. Sie hing mir ihr Hexenkostüm über den Arm, schob mich in die Thür ihres Toilettenzimmers, und als ich nach Ablauf einer geraumen Zeit, deren ich bedurft hatte, um mich in den ungewohnten Gewändern und ihrem Faltenwurf zurecht zu finden, verwandelt und unkenntlich wieder heraustrat, legte sie mit grenzenlosem Amüsement die letzte Hand an meine Verkleidung und versteckte meinen stolzen Schnurrbart unter der Larve einer alten braven Hexe, wie sie nicht schauderhafter hätte gedacht werden können.

Ueberredet, gepufft, belustigt und verwirrt, fand ich mich eigentlich erst ganz bei Bewußtsein wieder, als ich schon im Ballsaal stand und mich von der bunten, unkenntlichen, im Maskenfalsett durcheinander zwitschernden Gesellschaft umringt fand, die zuerst – auf mich wenigstens – immer einen fast unheimlichen Eindruck macht. Ich spähte unter den ausdruckslosen Larven vergeblich nach meiner Watteauschäferin, stand als schweigsame, verstimmte Hexe an einem Pfeiler und ließ den vielfarbigen Strom der Menschen an mir vorbeitreiben.

Ich war schon reichlich spät gekommen und eine laute, lärmende Lustigkeit hatte in der Gesellschaft Platz gegriffen, wie sie sonst in unseren Kreisen kaum zum Ausdruck zu kommen pflegte.

Plötzlich sagt ein liebes, bekanntes Stimmchen hinter mir: ‚Tante, gute Tante – so bist du doch gekommen! Ach, mir war schon so ungemütlich unter den vielen, fremden Leuten – wie reizend, daß du da bist!‘

Und eine kleine Hand berührte meine Schulter, während ich unwillkürlich wie ein ertappter Verbrecher zusammenfuhr.

‚Ist dir denn besser geworden?‘ fuhr Ines fort, in einem so liebevollen Ton, daß mir ganz heiß ums Herz wurde, ‚es ist rührend, daß du noch gekommen bist, Tantchen, nun bleibe ich aber auch bei dir!‘

Ich versuchte meine Stimme zu einem möglichst lieblichen Quiekslaut herab zu stimmen, fand es aber bei näherer Ueberlegung ratsam, in den allgemeinen Fistelton überzugehen, in dem ich mich am sichersten fühlte.

‚Es ist wohl besser wir sprechen so!‘ piepste ich verlegen, der direkten Anrede vorsichtig ausweichend, ‚die Leute dürfen doch nicht merken, daß wir zusammengehören und meine Stimme ist so bekannt!‘

Sie nickte eifrig.

‚Ja, ja, du hast gewiß recht -aber ich kann, glaube ich, ruhig sprechen, wie ich will, mich kennt ja hier niemand! Es ist überhaupt kein Mensch hier,‘ fuhr sie in schmollendem Ton fort – eine Feststellung, die angesichts der etwa zweihundert Personen im Saal sehr komisch klang – ‚den Lieutenant von Rotenberg habe ich auch noch gar nicht entdecken können – er ist gewiß nicht gekommen,‘ setzte sie leise hinzu.

‚Doch – der ist hier!‘ gab ich, immer im selben Ton, zurück, ‚dort drüben steht er ja – der italienische Räuber!‘

Der?‘ gab Ines im Ton einer für mich sehr schmeichelhaften Empörung zurück, ‚ach kein Gedanke, Tantchen! – der ist lange nicht so elegant! Nein, nein, zu verkennen ist Rotenberg nicht, er sieht doch immer am besten aus – findest du nicht auch?‘

Peinliche Frage – und peinlichere Situation. Ich kämpfte einen wahrhaft mörderischen Kampf zwischen Liebe und Pflicht – sollte ich mich jetzt demaskieren und allen weiteren Vertrauensergüssen erfolgreich vorbeugen, oder sollte ich diese Gelegenheit ergreifen, die sich mir vielleicht – nein, höchstwahrscheinlich – nie wieder bot, um einmal ins klare zu kommen, wie ich eigentlich beurteilt wurde. – Ich kämpfte, wie gesagt, wie der Ritter mit dem Drachen, aber der Drache – vulgo die Wißbegier und der Egoismus – siegte, ich blieb Tante und piepste weiter.

‚Nun, daß er dir so gut gefällt, läßt du aber für gewöhnlich nicht merken,‘ sagte ich in möglichst unbefangenem Ton, so weit man unbefangen fistulieren kann.

Sie schwieg einen Augenblick.

‚Nein!‘ sagte sie dann ehrlich, ‚das weiß ich wohl. Aber du kannst dir nicht denken, wie ich mich manchmal über ihn ärgere. Ich weiß nicht, Tantchen – ich glaube, ich könnte dir heute abend mal alles sagen – ich komme mir so versteckt und sicher unter der Maske vor – bitte, laß dir’s mal sagen!‘

Ich Scheusal – ich Ungeheuer! Jetzt wäre doch der Augenblick gewesen, diesem rührenden Stimmchen, dieser auf den Lippen zitternden Beichte gegenüber zu sagen, wer ich war; aber ich konnte nicht – ich brachte nur ein mühseliges, von Rührung und Erwartung halb ersticktes ‚Na?‘ hervor und das schien zu genügen.

Wir hatten inzwischen in einer Fensternische, vom Fenstervorhang halb verdeckt, Platz genommen, ein Beichtstuhl, wie er besser nicht gedacht werden konnte.

‚Siehst du,‘ begann das Mädchen mit leiser Stimme, ‚er gefällt mir wirklich sehr gut – riesig! – nein, wirklich, Tantchen – ich finde ihn so furchtbar nett – aber es ärgert mich so grenzenlos, daß er immer jedem jungen Mädchen den Hof macht.‘

‚Aber das thut er doch gar nicht!‘ quiekste ich verzweifelt, im Bewußtsein meiner Unschuld.

‚Ja doch – und doch – und doch! Was brauchte er damals gleich den Strauß zu dir zu schicken, ehe er eine Ahnung hatte, wer die Nichte überhaupt war? Und mit diesem schwülstigen Brief – zu arg!‘

‚Aber das war doch nur eine Aufmerksamkeit für mich,‘ verteidigte ich mich mit Wärme.

‚Ach, er macht es ja immer so,‘ sagte Ines zornig, ‚gestern auf der Schlittschuhbahn schnitt er wieder einem ganz unterirdischen, kleinen Geschöpf die Cour – wie toll – er sah mich überhaupt nicht, sag’ ich dir – einfach großartig war es! Und wenn ich dann mit ihm zusammen bin, ärgere ich mich so, daß ich gar nicht anders kann, als grenzenlos unfreundlich gegen ihn sein. Von Natur bin ich es ja wirklich nicht – nicht wahr, Tantchen, das weißt du doch?‘

Und die kleine Hand stahl sich in meine – ich zitterte, daß das Kaliber mich verraten möchte, und wagte nicht den arglosen Händedruck zu erwidern.

‚Ach Tantchen,‘ fuhr Ines nach einer Pause stockend fort, ‚sei nicht böse – aber bitte, sprich jetzt nicht so hoch – es klingt so komisch – es paßt so gar nicht zu dem, was wir zu sagen haben und was doch so ernsthaft ist – sprich in deinem guten, alten Ton – das wäre mir viel gemütlicher!‘

Na, das war ja eine erfreuliche Zumutung! Ich hörte mich in dem Augenblick in meinem ‚guten, alten Ton‘, meinem Brüllbaß vom Exerzierplatz sprechen – das hätte etwas Hübsches gegeben! Also meine letzte Zuflucht – die Piepstimme war mir genommen – da konnte ich mir ja ebensogut

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0086.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2019)