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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

‚Straßenräuber‘ zum zweitenmal, ließ sich die Schlittschuhe wieder abschnallen, hing sie über den Arm, grüßte mich, der ich wie Lots Weib in Lieutenantsgestalt vor ihr stand, und schwebte ab. Na, das war ja recht deutlich, und eine nicht mißzuverstehende Antwort auf meinen schon öfter gehegten Wunsch, zu wissen, woran ich war!

Ich machte auch gar keinen Versuch, ihr zu folgen. Ich stand noch vielleicht zwei – drei Minuten und sah ihr nach; dann überlegte ich mir, daß das Festfrieren an die Schlittschuhbahn auch ein zweifelhaftes Vergnügen wäre, welches mir aber unzweifelhaft blühen würde, wenn ich hier noch sehr lange so regungslos stehen bliebe; ich schnallte ebenfalls ab und ging meiner Wege, mit dem Gefühl, nun aber wirklich und definitiv ‚genug‘ und mir den Appetit auf mehr gründlich verdorben zu haben.

Ich hatte mir an dem Morgen ein herrliches Fra Diavolokostüm für den Maskenball ausgesucht und im stillen schon die Möglichkeit erwogen, unter der Maske dieses eleganten Räubers einen Raubzug auf das kühle Herz meiner Schönen zu unternehmen, aber nun überlegte ich es mir anders und strich mit fester Hand den Maskenball von der Liste meiner Lebensfreuden. ‚Man darf sich auch nicht wegwerfen!‘ sagte ich auf der Straße so laut vor mich hin, daß sich ein paar Vorübergehende ganz erstaunt nach mir umsahen.

Der nächste Tag brachte mir so viel Dienst, daß ich kaum zur Besinnung kam, und erst gegen Abend fiel mir ein, daß ich ja wohl meiner alten Freundin von meinem veränderten Entschluß Mitteilung machen müsse, da sie sich gewöhnlich bei gesellschaftlichen Veranstaltungen auf mich und meine Kommandostimme zum Herbeirufen ihrer Droschke und zu ähnlichen Ritterdiensten verließ und verlassen hatte. Ich begab mich also zu ihr und fand sie allein im Wohnzimmer, sehr behaglich und im entschiedenen Genuß des Dämmerstündchens – auf Ballabsichten deuteten im Augenblick noch keine Anzeichen.

‚Ich störe hoffentlich nicht bei den Vorbereitungen zur Toilette?‘ begann ich etwas steif im Eintreten.

Die gute, alte Dame lachte mich vergnügt an.

‚Nein, Rotenberg, ich will Ihnen sogar eine kleine Perfidie von mir verraten – ich gehe gar nicht auf den Ball! Meine Pflegebefohlene habe ich der Generalin Massenburg anvertraut und ihr versprochen, nachzukommen, wenn mir besser würde. Ich hatte nämlich ein bißchen Kopfweh, das ich zum Vorwand nahm; denn es war mir eigentlich von Hause aus nicht recht ernst damit, auf den Maskenball zu gehen, trotzdem ich schon ein herrliches Hexengewand samt Larve und Haube dort auf dem Stuhl liegen habe – um Kinder fürchten zu machen, sage ich Ihnen! Aber ich finde wenig Geschmack daran, wenn alte Leute, denen von Rechts wegen schon der Kopf wackeln sollte, sich noch zu Hanswürsten hergeben – es geht mir gegen den Strich! Die kleine Ines, die übrigens als Watteauschäferin – das sei Ihnen verraten – zum Kopfverdrehen reizend aussieht, ist schon zu Massenburgs gefahren, und wenn ich nicht nachkomme, was ich natürlich nicht thue, will Frau von Massenburg sie mit nach Hause nehmen und bei sich logieren – da habe ich meine ungestörte Nachtruhe. So viel Talent zur Intrigue haben Sie mir wohl gar nicht zugetraut? – Aber Sie?‘ fuhr die alte Dame dann lebhaft fort und faßte mich am Aermel, ‚Sie? warum sind Sie denn noch nicht als Figaro oder Faust oder sonst was dergleichen drapiert? Wollen Sie wohl machen, daß Sie fortkommen?‘

‚Lieber nicht!‘ erwiderte ich mit erzwungenem Lachen, ‚wenn Sie mich hier behalten mögen, gnädigste Tante, dann bleibe ich bei Ihnen – ich habe den Maskenball in den Schornstein geschrieben.‘

Die Tante richtete sich auf und sah mich mit ihren klugen Augen eine ganze Weile an.

‚Und warum?‘ frug sie langsam.

‚Aus einem sehr persönlichen Vernunftsgrunde,‘ sagte ich und versuchte möglichst leicht zu sprechen; ‚wenn ich als Kind einen Kuchen nicht bekommen sollte, ging ich an dem Konditorladen nicht unnütz vorbei, wo er im Schaufenster stand. Nun, ich habe mich jetzt überzeugt, daß ich den Kuchen, den ich gerne hätte, auch nicht bekommen soll – wozu führt es da, wenn ich mich ihm den ganzen Abend gegenübersetze? Nein, man muß einmal einen Strich machen können, und dazu ist der heutige Tag ein ebenso geeigneter Zeitpunkt wie jeder andere.‘

Die alte Dame schwieg eine Weile und sah nachdenklich ins Feuer.

‚Wissen Sie, Rotenberg,‘ sagte sie dann, ‚ich wäre jetzt sehr froh – wirklich sehr! – wenn ich aus voller Ueberzeugung sagen könnte: Sie machen sich Hirngespinste um nichts und wieder nichts, Sie haben alle Chancen bei der Kleinen, und so weiter, und so weiter, was man so gern sagt und gern hört; aber ich gestehe Ihnen ganz ehrlich, ich weiß selber nicht, was ich von dem niedlichen Persönchen und seiner Herzensverfassung halten soll. Daß es in dieser Hinsicht nicht ganz richtig bei ihr ist, darauf will ich schwören – sie hat öfter rotgeweinte Augen und seufzt manchmal über ihrer Stickerei, trotz dem besten Blasebalg. Aber ob Sie dahinter stecken, alter Sohn, oder ein anderer – das weiß ich nicht! Es ist ein ganz sonderbares kleines Mädchen,‘ fuhr die Alte sinnend fort, ‚sie verrät sich nicht und nie, und ich, die ich sonst die geborene und geschworene Vertraute in allen Herzensaffairen bin, ich kriege keinen Ton heraus, wie die Sachen stehen. Eins muß ich Ihnen sagen: daß Sie heute nicht auf den Ball gehen wollen, das ist dumm von Ihnen! Denn auf einem Maskenfest, wo alles so ein bißchen über sich selbst hinaus ist, da gehen auch verschlossene Herzensthüren hin und wieder ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0085.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2019)