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und nicht die leiseste Regung ihres Herzens sprach mehr für ihn als für die andern alle. Und heute?!

Heute fühlte sie mit einem Male ihr thörichtes Herz aufwallen wie nie in ihrem Leben, heute war in ihr eine Sehnsucht erwacht, von der sie nie eine Ahnung gehabt.

Lag es an dieser abenteuerlichen Reise, dieser Gegend mit all ihren Reizen, dieser wunderbaren Nacht – oder lag es an dem fremden Manne, den sie hier zum erstenmal gesehen und der –

Ja! Sie mochten alle viel gewandter sein und vornehmer, ihre Unterhaltungsgabe viel witziger und bestechender – eins aber fehlte ihnen, eins hatten sie nie vermocht: den Ton anzuschlagen, der widerklingt in einer anderen Brust, die Sprache zu reden, welche wahrhaft erst die Geister vereint, die Sprache des Menschen zum Menschen! Darum waren ihr diese Männer fremd geblieben, so oft sie der Weg des Lebens auch zusammenführte – daheim und auf der Reise. Es war immer dasselbe! Sie war und blieb für sie stets die Dame der großen Gesellschaft, etwas anderes nie! Deshalb hatte sie sich bei allem äußerlichen Glück doch innerlich nie befriedigt gefühlt.

Und nun mit einem Male kam jemand, der nicht zu ihr sprach wie zu der Dame eines besonderen Stands, sondern wie der Mensch zum anderen Menschen. Die Natur mit all ihrer Erhabenheit und Größe hatte ihm das Herz erschlossen, und dies ganze volle Herz hatte er ihr geoffenbart, die er eben erst kennengelernt, und was er fühlte und sagte, war widergeklungen in ihrem Innern wie ein Ton aus einer Heimat, die sie lange nicht gesehen. Sie hatte empfunden, daß sie sich verstanden wie nur gleichfühlende Menschen sich verstehen können.

Und das alles sollte mit dem morgigen Tage aus und vorbei sein? Und warum?! Ja – warum, wenn man nur den Mut in sich fühlt, kräftig zu wollen und zu handeln, Fesseln zu sprengen, die einem unerträglich geworden?!

Sie hatte die Oberkleider gelöst – die freigewordenen Haare fielen über Nacken und Brust – den glühenden Kopf hatte sie in die weichen Arme gestützt, so starrte sie nachdenklich hinweg über den kleinen Handspiegel, der vor ihr stand.

Er hatte Lust, Docent zu werden. Die Gaben dazu besaß er zweifellos, nur das Geld fehlte ihm dazu. Das armselige Geld!

Sie lächelte geringschätzig. Aber es war noch etwas anderes!

„Es giebt Fesseln, die kein Simson sprengen kann – heilige Fesseln, in denen wir haften mit unserem ganzen Sein, mögen sie auch unserem rücksichtslosen Wollen und Wünschen drückend erscheinen.“ Wie ihr diese Worte durch den Kopf hallten! Gab es solche Fesseln auch für sie?

Mit einem Male stand das Bild ihres Vaters vor ihr – Rupert selbst hatte sie an ihn erinnert – ihr lieber, guter, aber auch adelsstolzer, starrer Vater, der kein höheres Heiligtum kannte als seinen Stammbaum, der seine amtliche Stellung mit peinlichster Gewissenhaftigkeit, aber mit ebenso unnahbarer Hoheit versah.

Dieser Vater – und der Schulamtskandidat! Sie hätte auflachen können, wenn ihr nicht so furchtbar ernst ums Herz gewesen wäre! Und um ihren Vater gruppierten sich nun alle anderen Glieder der Familie, die von seiten ihrer Mutter, die einem der, ältesten Grafengeschlechter angehörte, in erster Linie, all die Tanten und Basen und deren Gatten und Söhne, alle ohne Ausnahme in den bevorzugtesten Stellungen der Gesellschaft. Und sie sah sie alle voller Verachtung auf sich herabblicken und die großen entrüsteten Nasen rümpfen über die Vergessene und Verlorene, die dort mit dein Schulamtskandidaten fortwanderte in eine Welt hinaus, von der keine Brücke mehr herüberführte!

Nein, es war nicht möglich!

Und selbst wenn sie das auf sich genommen und sich getrennt hätte für alle Zeit von der Welt, in der sie bis jetzt gelebt und glücklich gewesen – wenn dann ihrem Vater, dessen einziges Kind sie war, der sie mit zärtlicher Liebe im Herzen trug, dieses Herz darob gebrochen wäre und sie müßte ihn siechen sehen und welken um ihretwillen – hätte sie auch dann noch den Mut gehabt, kräftig zu wollen und zu handeln wie sie eben wähnte?! auch dann noch die Kraft besessen, so glücklich zu bleiben wie sie heute es träumte?!

Nein! Nein! Sie war mit jähem Entsetzen emporgeschnellt von dem Stuhle.

Er hat recht! Wir leben nicht für uns allein. In unserem Leben wurzelt das anderer Menschen und wir in ihm. Wer hätte das Recht, nur für sich zu wollen und für sich zu handeln? Man darf das Glück nicht suchen jenseit der Grenze, die Gott uns gezogen, und sei es noch so süß und lockend! Alle diese Wünsche sind die Sommernachtsträume des Lebens, die sich so schön träumen, aber nie verwirklichen lassen. Da heißt es entsagen und lernen, das Glück zu finden im eigenen beschränkten Kreise!

Aber austräumen und auskosten will ich diesen herrlichen Traum bis zu Ende und folgen soll er mir mein ganzes Leben hindurch, und wenn es mir wieder flach erscheinen will und alltäglich, dann will ich flüchten zu seinem holden Zauber, bis –

Sie kam nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu führen. Sie lag längst in ihren weichen Kissen. Vor ihren Augen flutete und wallte der silberne Neckar so gleichmäßig, so träumerisch müde – und über ihm hoben und senkten das hohe Haupt die grünenden Berge ganz langsam wie im Takte. Und leise neigte und nickte dazu die mondumflossene Schloßruine. Und um sie herum tanzten in feierlich gemessenem Schritte die Geister des Schlosses, geführt von Perkeo, dem kleinen winzigen Wichte. Und siehe, aus ihrem Reigen trat einer heraus in weißem wallenden Gewände, mit einem Antlitz, in dem der Friede wohnte und die glückselige Ruhe. Der nahm sie in seine Arme und küßte ihr die dunkelblauen Augen und strich ihr mit der zarten Hand über die schweren Lider, die zugefallen waren.

Das war der Schlaf. Der erbarmte sich ihrer und trug sie auf seinen weichen Schwingen in das ferne Reich des Vergessens, des wirklichen Traumes.

Und über ihre roten Lippen spielte ein Lächeln wie ein wehmütig süßes Glück, und die junge Brust hob und senkte sich so ruhig im lieblichsten Sommernachtstraum, den je ein Menschenkind träumte. - - - - - - - -

Als sie längst eingeschlafen war, kehrte auch Rupert von seiner einsamen Wanderung zurück. Er hatte, indes er am brausenden Neckar entlang ging, einen viel schwereren Kampf gekämpft als sie; aber, als er jetzt in sein Zimmer trat und noch einen Abschiedsblick zum gestirnten Nachthimmel emporsandte, lag der Frieden auf seinen ernsten Zügen und die Festigkeit, welche, des Zieles sich bewußt, Irrwege zu meiden weiß.

9.

Am nächsten Morgen in früher Stunde gingen sie denselben Weg zum Schlosse hinauf, der ihnen durch den vergangenen Abend so unvergeßlich geworden. Die Erinnerung an das, was sie gestern gemeinsam erlebt, flammte in ihrer ganzen Macht auf. Aus ihren ernsten Zügen sprach sie, aus ihren sinnenden Augen, am beredtesten aber aus dem Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, denn schon waren sie eine große Strecke nebeneinander gegangen, und kaum ein Wort war gesprochen.

Hinein aber in diese Erinnerung stahl sich die Wehmut, daß es nun zu Ende sein sollte für immer, was sie hier miteinander empfunden und durchlebt, daß alles nur ein kurzer Traum gewesen, aus dem sie erwacht waren zur ernsten Wirklichkeit, zum traurigen Scheiden!

Zur ernsten Wirklichkeit!

Sie waren am Ziele ihrer Wanderung angelangt. Wieder lag sie vor ihnen, die alte hochragende Schloßruine in ihrer ganzen Majestät und Schöne – aber so verklärt, so traumumflossen, wie gestern im weichen Mondeslicht, sah sie heute in der Morgensonne nicht mehr aus. Wieder hoben und senkten sich da drüben die weinumkränzten Hügel und Berge – aber so zauberisch und unwiderstehlich wie gestern im blauschimmernden Nachtgewande grüßten und winkten sie nicht mehr. Wieder rauschte und brauste da unter ihnen der grüne Neckar – aber das glitzernde Silber auf seinen Fluten war verschwunden, die Nixen stiegen nicht mehr aus seiner Tiefe, die Geister waren alle verstummt, die raunenden und lockenden der gestrigen Mondnacht.

Es war Tag geworden, die Sonne hatte sie vertrieben.

Der Zauber schwieg. Und dennoch – angesichts dieses Schlosses und dieser Umgebung erhob sich alles, was gestern zwischen ihnen vorgefallen, so lebendig in ihrem Inneren, daß es alle Fesseln der Befangenheit und der Wehmut sprengte und ihnen plötzlich die Worte lieh, die sie bis jetzt nicht gefunden.

„Bevor wir scheiden, Eins noch,“ brach das Fräulein zuerst das Schweigen, „es hat mir am meisten zu denken gegeben von

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0056.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2017)