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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Sie wollte sich nichts merken lassen, aber als auch die zweite Stunde verrann, sah Rupert sie wieder mit den Thränen kämpfen. Seine harmlosen Scherze, sein gutes Zureden waren diesmal vergeblich.

Endlich nahte sich eiligen Schrittes der Stationsvorsteher, in den Händen ein Telegramm.

Das Fräulein flog ihm entgegen, las es und ließ es dann mit fast bestürzter Miene sinken.

Rupert hob es auf.

„In falschen Zug geraten. Kann erst morgen früh in Heidelberg sein. Erwarte dich dort Hotel Europa.“

Es war ihm selten im Leben so schwer geworden, seine Gefühle zu verbergen wie dieses Mal.

Also heute abend hatte die Excellenz keinen Anschluß mehr! Sie mußte irgendwo übernachten, konnte erst morgen weiter, und bis dahin?! Er sah auf die junge Dame. Sie schaute noch bestürzter drein als vorhin. Die Lage schien ihr verzweifelt.

Und Er? Er hätte aufjauchzen mögen vor lauter Freude und Lust über diesen Roman, der immer interessanter, immer fesselnder für ihn wurde und sich von allen geschriebenen dadurch unterschied, daß er ihn erlebte, ja ihn erlebte in vollen Zügen, mit ganzem jubelnden Herzen.

Aber nein – er durfte das Fräulein seine überströmende Freude nicht merken lassen; er wäre ihr gefühllos oder gar schadenfroh erschienen. Aber zu sehr konnte er sich nicht verstellen; jetzt einen beileidsvollen Ton anzunehmen, das wäre ihm gar nicht gelungen, selbst wenn er es gewollt hätte.

„Ich verstehe nicht, mein gnädigstes Fräulein,“ wandte er sich mit einer Sprache, die zwischen Scherz und Ernst einen weisen Mittelweg wählte, „wie man so nachdenklich aussehen kann, wenn einem rein durch des Schicksals Gunst plötzlich und unverhofft die heißesten Herzenswünsche erfüllt werden.“

Sie schien ihn nicht zu verstehen.

„Ich war im Coupé vorhin Zeuge eines Gesprächs, in dem Sie Ihren Herrn Vater vergebens baten, mit Ihnen den Abend in Heidelberg zu bleiben. Und nun, ehe Sie es ahnen, wird dieser Wunsch erfüllt.“

Sie gab sich Mühe, zu lächeln – es gelang ihr nicht.

„Das war damals etwas anderes. Aber jetzt – so ganz allein –“

„Ganz allein?!“

Er sah sie fast verwundert an. „Ich habe mir nie geschmeichelt, viel in dieser Welt zu bedeuten, besonders in der Welt nicht, in der Sie leben. Aber daß ich so einfach Null für Sie bin, daß Sie sich ganz allein nennen, wo ich –“

„Aber Sie werden mich doch nicht nach Heidelberg begleiten, Sie müssen doch Ihre Reise weiter machen –“

„O, mein gnädiges Fräulein, wenn es nichts anderes ist, das Warten habe ich gelernt – ich habe Zeit! Solche Eile hat meine Reise nicht – einen Kriegsminister habe ich auch nicht zu vertreten – und wenn alle Minister Europas mich zu ihrem Stellvertreter auserkoren hätten – sie müßten alle warten! Sie unter diesen Umständen nicht zu verlassen, ist doch einfach meine Pflicht, auch wenn sie nicht so sehr angenehm wäre.“

Jetzt brauchte sie sich keine Mühe mehr zu geben – sie lächelte wirklich; langsam und zaghaft ging wieder die Sonne auf in dem reizenden Angesicht.

„Ich Sie allein lassen – ohne Schutz, ohne Schirm, in einer wildfremden Stadt! Ich bitte Sie, gnädigstes Fräulein, für was würde Excellenz mich halten!“

Noch einmal suchte sie abzuwehren, aber sie that es viel schwächer, viel weniger ernst als vorher.

„Das hilft Ihnen nun alles nichts! Ich bleibe bei Ihnen, bis ich Sie in die Arme Ihres Herrn Vaters wohlbehalten abgeliefert habe. Dann ist meine Schuldigkeit gethan – dann kann ich gehen! Aber – jetzt nicht. Jetzt müssen Sie mich dulden als Ihren Ritter, Ihren Knappen, wie Sie wollen, oder – apropos, Sie haben ja keinen Pfennig Geld bei sich – zum mindesten als Ihren Bankier!“

Die letzte Falte wich, der leiseste Schatten schwand. Die Sonne leuchtete immer heller, so hell beinahe wie die glitzernden Zähne und die lachenden großen Augen.

„Gut; einverstanden, mein Herr Ritter. Ich danke Ihnen!“ Sie hielt ihm die Hand entgegen, er ergriff sie – fast ein wenig zu stürmisch; denn sie entzog sie ihm schnell wieder, und dabei stieg ein purpurnes Rot ihr ins Antlitz.

„Herr Stationsvorsteher, bitte, wann geht der nächste Zug nach Heidelberg?“

„Er muß sofort einlaufen, mein Herr!“

„Nun denn, en avant! Billets haben wir ja – ach nein, nein – das Ihre macht mit Excellenz eine kleine Nachtreise. Also schleunigst – Zwei Erster Klasse nach Heidelberg! – So, ich danke. – Hier, gnädigstes Fräulein – nein, das Coupé ist zu voll – es ist so heiß heute – hier ist Platz – ich danke verbindlichst, Herr Stationsvorsteher!“

Und wieder saßen sie beide allein im Coupé, und der Eilzug brauste dahin durch üppig blühende Wiesen und Felder, auf denen das Getreide zum Teil schon in Garben gebunden stand, und flog an den Stationen vorbei – ganz unnötig schnell, wie Rupert dachte.

Seine Gefährtin war schweigsam und nachdenklich; aber als er einigemal verstohlen in ihr Antlitz blickte, da entdeckte er etwas ganz Neues. Um den Mund, der zwar immer noch ernst geschlossen war, spielte ein schelmischer, fast schalkhafter Zug, und aus den sinnenden Augen sprach etwas Eigentümliches, das er nicht ganz ergründen konnte, das ihm Eins aber sagte, nämlich, daß dies kleine Reiseabenteuer ihr nicht ganz unwillkommen war. – Sie hatte ja auch so gerne Heidelberg sehen wollen!

Und da mäßigte der Zug auch schon seine rasende Eile, von ferne erglänzten im Sonnengolde die Fluten des Neckars, die altehrwürdigen Türme Heidelbergs zeigten sich am Horizont, und vor ihnen lag die Stadt, in der weichen Abendstimmung wie ein Luftbild in träumerischen, verschwommenen Linien dunkelblau und weiter am Horizonte in ganz mattem Rosa verschwimmend.

„Du meine Güte,“ rief Rupert mit einem Male aus, „jetzt sind wir gleich am Ziel und Sie wissen noch nicht einmal, wem Sie sich auf einer weiten Reise und in einer ganz fremden Stadt so zuversichtlich anvertrauen. Zwar mein Titel und Namen thut wenig zur Sache. Ich bin der Doktor Walter Rupert, vieljähriger Probekandidat am Gymnasium zu – der Name wird Ihnen gleich sein. Sie lachen, mein gnädiges Fräulein, und doch ist es ein sehr ernsthafter Titel, einer, der eigentlich mehr zum Weinen als zum Lachen ist. Sie werden kaum wissen, was das heißt – vieljähriger Probekandidat?“

Sie lächelte verlegen.

„So erlauben Sie, daß ich Ihnen seine Bedeutung erkläre. Kandidat ist ein Zeitwort der Zukunft und heißt Einer, der etwas werden will oder muß, und Probekandidat heißt nun so Einer, weil man ihn auf die Probe stellt, wie lange er es wohl aushält, bis er etwas wird. So, mein gnädiges Fräulein, jetzt kennen Sie meine Vor- und Zunamen, meine Titel und Würden so genau wie ich die Ihren, jetzt können wir getrost die neue Stadt betreten.“

Der Zug hielt. Sie stiegen aus und Rupert übergab das geringe Handgepäck einem Packträger mit der Weisung, es nach ihrem Hotel zu bringen.

Langsam gingen sie vom Bahnhofe durch die dicht schattende Kastanienallee der Leopoldstraße der Stadt zu. Die Hitze des Tages hatte ein wenig nachgelassen, ein erfrischender Luftzug regte sich. Die Stadtpromenade war gefüllt von zahlreichen Spaziergängern. Einheimische und Fremde suchten Erquickung nach des Tages Mühe und Schwüle, Studenten mit farbigen Mützen und Bändern wanderten dazwischen, Radfahrer flogen vorbei – ein buntes, abwechselndes Bild, ein Treiben und Gewühl, das einen großstädtischen Anstrich hatte.

Dem Fräulein war es eigentümlich zu Mute, an der Seite eines Mannes, den sie heute zum erstenmal in ihrem Leben gesehen, in eine Stadt zu kommen, die sie nie betreten. Und doch – unter all diesen Menschen, die geschäftig an ihr vorüberrauschten, in der unbekannten Umgebung kam sie sich nicht fremd, noch verlassen vor; nur ein seltsames Gefühl regte sich in ihrem Herzen, wie sie es noch nie empfunden, so bange und so zuversichtlich zugleich – sie konnte sich keine Rechenschaft von ihm ablegen – sie schob es auf das Ungewohnte der Umgebung und Lage, in der sie sich befand.

Sie hatten den vollgrünenden Neptunsgarten zur Rechten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0023.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)