Seite:Die Gartenlaube (1898) 0022.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

ein großer blinkender Tropfen an ihren Augenlidern hing und langsam die bleiche Wange hinunterrollte, da erschien ihm dies Empfinden fast wie ein Unrecht. Und jedes andere Gefühl ging unter in dem herzlichsten Mitleid mit ihr, in dem einen Wunsche, ihr in ihrer Verlegenheit zu helfen.

„Aber, mein gnädigstes Fräulein,“ rief er, „was in aller Welt ist denn geschehen, daß Sie gleich so zu verzweifeln brauchten?! Ihrem Herrn Papa ist ein kleines Malheur passiert, das jedem, auch dem erfahrensten Reisenden, alle Tage zustoßen kann – er ist doch nicht verschwunden – Sie werden ihn bald wieder haben!“ Viel früher gewiß als es mir lieb ist, setzte er in Gedanken seufzend hinzu.

„Aber wie sollen wir uns wieder treffen, wie soll ich wissen, wo er ist?“

„Nichts einfacher als das – Sie telegraphieren ihm –“

Sie sah erstaunt auf. „Telegraphieren – aber wohin?“

„Nun, lassen Sie uns überlegen! Sie haben da ein großes Kursbuch. Darf ich vielleicht einmal bitten? Ich danke verbindlichst. Seite 252 Basel–Heidelberg. So, da haben wir es schon. Zuerst also telegraphieren wir nach Karlsruhe. Nun glaube ich zwar nicht, daß Ihr Herr Papa in Karlsruhe sitzen geblieben ist. Nein, nein, ich rede jetzt ganz im Ernste. So erfahrene Reisende machen solch einfaches Versehen nicht, verzeihen Sie! Das überlassen sie weniger gewiegten Leuten. Ich nehme vielmehr an, daß er in der Eile in einen falschen, vielleicht gerade abgehenden Zug gestiegen ist. Gestatten Sie gütigst – so! Sehen Sie, ungefähr zu derselben Zeit geht da ein Zug nach Schwetzingen, nach Mannheim – ja sogar einer die Strecke zurück, die wir gekommen sind – ganz abgesehen noch von den Extrazügen, die jetzt kursieren.“

„Sie wollen also, daß ich mehrere Telegramme abschicke?“

„Gewiß, Numero 1 nach Karlsruhe, Numero 2 nach Schwetzingen, Numero 3 nach Appenweier – alles Bahntelegramme. Sie kennen diese Einrichtung – nicht? Nun, das sind Telegramme, die auf allen Stationen, sowie der Zug einläuft, ausgerufen werden, bis der Adressat ermittelt ist.“

„Aber –“ Sie stockte.

„Nun?“

„Das geht gar nicht. Papa hat auf Reisen immer alles bei sich. Ich habe nicht einmal mein Billet, auch nicht das geringste Geld.“

„Das macht nichts. Das legen wir alles aus. Ich wollte, ich hätte mein Geld immer in so sicheren Papieren angelegt wie in diesen Telegrammen,“ setzte er mit einem ehrlichen Seufzer hinzu.

Sie lächelte – ein mattes, leises Lächeln, aber es stahl sich durch ihre Thränen hindurch wie der erste verheißende Sonnenstrahl durch eine trübgestimmte Landschaft.

„Doch nun zur That – die Zeit drängt!“ Er riß aus seiner Brieftasche einige Blätter und begann zu schreiben: „,Bahntelegramm’ – Nun, was telegraphieren wir?“

„Daß ich ihn auf der nächsten Station erwarte.“

„Gut – also in Bruchsal. Dann aber schnell, wir haben nur noch wenige Minuten. Also: ‚Erwarte dich Bahnhof Bruchsal‘ – ‚erwarte dich Bahnhof Bruchsal‘“ wiederholte er. „Weiter nichts – klingt das nicht ein wenig kahl? Ihr Herr Vater wird sich ängstigen über Sie. Wollen wir nicht etwas Beruhigendes hinzusetzen wie etwa: ‚Mir geht es sehr gut‘ – nein, nein,“ lachte er jetzt hell auf, „das geht nicht, das dürfen wir jetzt nicht schreiben, aber etwa: ,Ich bin gut aufgehoben‘ – Gott, nur daß er sich nicht ängstigt der alte Herr, und ,ich bin gut aufgehoben‘, das können Sie ruhig schreiben, gnädiges Fräulein.“

Es war ein so treuer, ehrlicher Blick, der sie dabei aus seinen klugen Augen traf. Sie sah ihn zum erstenmal eine Weile an – sie lächelte wieder, aber dieses Mal schon etwas länger, etwas zuversichtlicher. „Meinetwegen – das können Sie schreiben. Papa ängstigt sich tot, wenn er mich allein glaubt –“

„Also: ,Erwarte dich Bahnhof Bruchsal. Bin gut aufgehoben.‘ – Aber nun, bitte – die Unterschrift. Ihren Vornamen, gnädigstes Fräulein?“

„Marie,“ sagte sie leise und errötete.

Sie sah nicht, daß in demselben Augenblick auch über seine Züge ein mattes Erröten zog, daß sein sonst so heiterer Blick mit einem Male nachdenklich wurde. „Marie,“ wiederholte er leise, und ein seltsamer Klang zitterte durch dieses Wort. Aber bald war er wieder der Alte.

„Alles gut. Aber eins fehlt noch, und das ist die Hauptsache. Die Adresse. Der Name Ihres Herrn Vaters.“

„Fehrbach – von Fehrbach,“ sagte sie leise.

„von Fehrbach – schön – aber ein Titel sollte nicht fehlen. Es könnte bei dieser Reisewut doch sein, daß irgend ein anderer Fehrbach irgendwo sitzen geblieben ist und wir dann einen falschen nach Bruchsal bekommen. Also schreiben wir Oberst von Fehrbach –“

„Oberst?“ sagte sie erstaunt, „wie kommen Sie auf den Oberst?“

Er wußte es selbst nicht, es waren nur seine Kombinationen gewesen, sonst hatte er keinen Anhaltspunkt.

„Nein, das nicht,“ fuhr sie lächelnd fort, „aber muß es etwas sein, dann schreiben Sie Excellenz, obwohl das nichts zur Sache thun wird.“

„Obwohl das nichts zur Sache thun wird?!“ erwiderte er mit lachendem Erstaunen. „O, mein gnädigstes Fräulein, wie wenig – verzeihen Sie einem Vielgeprüften! – wie wenig kennen Sie noch die Welt! Die Herren Excellenzen reisen schnell – viel schneller als so ein anderer Sterblicher. Kommt da solch ein Telegramm an: „Fehrbach“ – vielleicht auch: „von Fehrbach“ – nun, es wird eben ausgerufen, aber wen kümmert es? Warum verpaßt der Herr Fehrbach den Zug, warum läßt er seine Tochter nun in Bruchsal sitzen? Aber eine Excellenz Fehrbach, ums Himmels willen, welche Ungeschicklichkeit! Wie kann man so eine Excellenz mir nichts, dir nichts auf einem Bahnhof sitzen lassen und die Tochter dieser Excellenz mit einem wildfremden Mann allein weiterreisen lassen! Das ist unerhört! Ich sage Ihnen, die Stationsvorsteher werden Flügel vom Himmel erflehen, um sie ihren Stahlrossen anzuhängen. Womöglich ist diese Excellenz noch aus dem Eisenbahnministerium – und nun – unerhört –“

Wie hell sie lachte! Kein Schatten mehr in dem schönen Antlitz. Die weißen Zähne schimmerten und glitzerten in verführerischer Pracht und die dunklen veilchenblauen Augen leuchteten in sonniger Heiterkeit. „Nein, mit der Eisenbahn hat Papa nichts zu schaffen. Er ist im Kriegsministerium und hat keinen Tag mehr zu verlieren, weil er den Herrn Minister vertreten muß, der übermorgen auf Urlaub geht.“

Im Kriegsministerium! Und zwar der nächste nach dem Minister selber! Und den Mann hatte er für einen abgewirtschafteten Oberst a. D. gehalten! Rupert freute sich zum erstenmal, daß er nur noch so wenige Haare auf dem Kopfe hatte – das Fräulein hätte sonst sehen müssen, wie sie ihm zu Berge standen.

Wie hatte er diesen Mann unterschätzt, mit dessen Tochter er nun allein dahinfuhr durch die weite Welt, wie inbrünstig bat er ihm alles ab und beschwor ihn im Geiste, daß er sich nur nicht dadurch an ihm rächen möchte, daß er jetzt einige Stunden eher wiederkäme und den Zauber zerstörte, mit dem ihn die wunderbare Situation mehr und mehr umfing! Trotz allen Respekts vor dieser Excellenz, er hätte gewünscht, der Zug, in den sie geraten, raste wie toll dahin ohne Aufenthalt bis an das Meer und die Excellenz hätte Tage nötig, bis sie endlich wieder in Bruchsal anlangte.

Doch halt! Die Station war erreicht, auf der die Telegramme – es ging doch nun einmal nicht anders – aufgegeben werden mußten! Er rief dem Stationsvorsteher. Dieser warf einen Blick auf die Papiere und verneigte sich dann gegen die junge Dame. „Excellenz vermutlich Anschluß verpaßt – höchst bedauerlich! Werden aber alles thun, um Excellenz so schnell wie möglich zu avisieren, gnädiges Fräulein können ganz beruhigt sein –“

„Natürlich,“ murmelte Rupert vor sich hin, „ich wette, der alte Herr ist noch eher in Bruchsal als wir und empfängt uns dort mit offenen Armen!“

Aber er war nicht dort, als sie nun in Bruchsal ankamen und den Zug verließen. Der Stationsvorsteher aber schien doch schon von seinem Kollegen unterrichtet zu sein; er empfing sie, gleichfalls in höflichster Weise seinem Bedauern Ausdruck gebend, und geleitete sie in das Wartezimmer.


4.

In diesem verstrich den Harrenden die Zeit langsam. Rupert hatte Kaffee bestellt, aber das Fräulein berührte ihn nicht. Sie war sehr einsilbig geworden. Die Situation erschien ihr immer bedenklicher. Einigemal stand sie auf und wandte sich fragend an den Stationsvorsteher. Es war vergeblich, kein Telegramm kam an[.]

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0022.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)