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liebevoll die kleinen Falten auf der hohen Stirn und warf einen kurzen Blick in den gegenüberliegenden Spiegel. In dem hübschen, fein geformten Gesicht leuchteten so jugendliche Augen, die Züge waren so frisch und klar; trotz der weichenden Haare und der Falten auf der Stirn war es nicht unmöglich, daß es noch einen älteren Leidensgefährten gab als ihn. „Noch nicht alt genug!“ Wo in der ganzen Welt giebt es auch so alte Leute als unter den Probekandidaten. „Der reine Seniorenkonvent!“ seufzte er mit etwas grimmigem Lächeln. Das Alter muß man ehren! Da hilft nun einmal nichts. Wenn er diese heilige Pflicht nur nicht zu oft schon hätte üben müssen!

Eben wollte er den unheilvollen Brief fortlegen – da fiel sein Blick auf ein bisher nicht beachtetes Postskriptum auf der Rückseite: „Ich gebe Ihnen jetzt einen dringenden Rat und wünschte wohl, daß Sie ihn befolgten. Die Freude an Ihren Zeugnissen, mein fast hartnäckiges Eintreten für Sie hat den pflichtgestrengen Herrn Geheimrat doch etwas weich gemacht. Vielleicht ist noch nichts verloren, wenn Sie sich entschließen könnten, die Reise von den Reichslanden hierher zu machen und sich ihm persönlich vorzustellen. Ist es für dieses Mal vergeblich, dann sicher nicht für die nächste Stelle. Kennenlernen muß er Sie auf jeden Fall. Also wagen Sie es! Sie haben noch sechs Tage bis zum Schluß der Ferien. Da kann viel gemacht sein. Entschließen Sie sich schnell! In meinem Hause sind Sie ein willkommener Gast!“

Einigemal ging Rupert, den Brief in der Hand, in seinem Zimmer auf und ab, einigemal schüttelte er unwillig den Kopf – dann blieb er stehen. „Was hast du dir gelobt, alter Freund, als du vor etlichen grauen Jahren in das verheißungsvolle Amt eines Probekandidaten am Gymnasium dieser Stadt eingeführt wurdest? Eins wolltest du nie verlieren und verleugnen, und wenn man dir seinen Besitz noch so schwer machte: die Geduld, die einem Probekandidaten nötiger ist als das tägliche Brot! Probieren wir’s mit dieser Reise! Suchen wir das harte Herz dieses Geheimrats zu schmelzen – und sei es von Stein! Dem Mutigen hilft das Glück – Fortem fortuna adjuvat!

Er trat ans Fenster, trommelte an die Scheiben und pfiff dazu seinen Lieblingsmarsch: „Vorwärts mit frischem Mut!“ Dann kramte er einen Fahrplan aus einem verborgenen Winkel seines Schreibtisches hervor und blickte hinein. Um Himmelswillen! Schon um vier Uhr ging der Kurierzug – da war keine Zeit mehr zu verlieren!

Er öffnete die Thür seines Zimmers und rief mit durchdringender, weithin schallender Stimme: „Frau Bärchen, Frau Bärchen!“, bis die Gerufene, atemlos und das runde, volle Gesicht gerötet vom Feuer der Küche, in der Stube erschien, den beweglichen Mund zu tausend Fragen bereit. Aber nicht einmal zu einer ließ er sie kommen, so große Anstrengungen sie auch machte.

„Frau Bärchen,“ rief er ihr entgegen, „packen Sie meinen Handkoffer, den Frack, die schwarzen Beinkleider, den Klapphut, die weißen Handschuhe, kurz – Sie wissen ja!“

„Wollen der Herr Doktor schon wieder auf eine Hochzeit?“

„So etwas Aehnliches, meine gute Frau Bärchen, aber bei all der Liebe, die Sie mir je gezeigt, bei all den Versicherungen Ihrer mütterlichen Fürsorge um mich, bei allem noch Teureren, was Ihnen ein besserer Redner ans Herz legen könnte, beschwöre ich Sie, machen Sie schnell, liebste Frau Bärchen – es gilt eine Lebensentscheidung!“

Frau Bärchen schüttelte den Kopf. So spaßig war er immer, der Herr Doktor, und daß er es war, freute niemand mehr als sie.

Irgend welche Aufschlüsse von ihm zu erhalten, wäre für heute aussichtslos gewesen – sie ging und packte eiligst den Koffer. Rupert pfiff einem halbwüchsigen Jungen, der vor der Thür herumlungerte, übergab diesem sein Gepäck, drückte der noch nicht zu Atem gekommenen Frau Bärchen die fette Hand und schlug den Weg zum Bahnhof ein.


2.

„Station Appenweier! Umsteigen nach Karlsruhe, Heidelberg, Frankfurt!“

Rupert war auf der Fahrt aus dem Elsaß ins Badische in dem heißen Coupé ein wenig eingeschlafen, als ihn dieser Ruf des Schaffners weckte.

Der Zug war eben hereingebraust. Rupert ging von Coupé zu Coupé; es war Ende Juli, die Hauptreisesaison – vollends in dieser Gegend! Ueberall indignierte, entrüstete Gesichter – überall das eine brummende Echo: Alles besetzt! – Er wandte sich an den Schaffner; auch das vergebens. Endlich erbarmte sich der Zugführer seiner und öffnete ihm ein Coupé erster Klasse.

Hier war es leerer. Nur zwei Personen befanden sich in diesem Raume, ein älterer Herr und eine junge Dame.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Rupert hatte Zeit, seine Mitreisenden genauer zu betrachten. Ueber der Gestalt des älteren Herrn, der trotz der schwülen Hitze straff und kerzengerade auf dem Polster saß, lag jenes unverkennbare Wesen, das auch im Civilanzug den Militär nicht verläßt. Er sitzt wie auf dem Pferde, dachte Rupert bei sich. Das sonnenverbrannte, strenge Antlitz mit seiner unnahbaren Vornehmheit, der martialische weiße Schnurrbart, die kräftigen Lippen darunter, die nur zum Kommandieren sich zu öffnen schienen und die ein wenig hochmütig aufgeworfen waren, bestärkten ihn in seiner Ansicht.

Ob er aktiver Offizier war oder verabschiedeter? Er hatte graue, fast weiße Haare. Das kommt heute bei aktiven Offizieren kaum noch vor. Da dürfen selbst die Herren Obersten nicht anders aussehen als ein schneidiger Premierlieutenant! Es ist eben eine andere Welt wie bei uns Probekandidaten – hier heißt es nie: nicht alt genug, sondern immer nur: nicht jung genug.

Folglich ein Offizier a. D., kalkulierte Rupert mit unbeirrter Sicherheit weiter, ein Major a. D. – nein, dazu sah er denn doch zu martialisch, zu schneidig aus, Oberst mindestens! Um so mehr eine verschollene Größe – eine Ruine alter Pracht und Herrlichkeit! Hat nun nichts anderes zu thun, der alte Herr, als in der weiten Welt herumzukutschieren! Brauchtest dich übrigens gar nicht so zu „haben“, Alterchen, denn wenn ich auch nur ein armer Probekandidat bin, ich bin noch jung, zu jung sogar – ich bin Zukunft, und du – du bist Vergangenheit, wenn du es auch selbst noch nicht zu glauben scheinst und mich mit deinen stolzen Augen ansiehst, als müßte ich die ganze Fahrt bis Frankfurt vor dir „stramm stehen“.

Mit dem Alten war Rupert fertig, er glaubte seine ganze Lebensgeschichte zu kennen. Aber nun die junge Dame!

Er konnte wenig von ihr sehen. Sie saß in der äußersten Ecke ihm gegenüber, das Köpfchen in die Polsterlehne gestützt. Die Augen schienen geschlossen, der Zugwind spielte in ihren schwarzen Haaren, die sich leise wallend bewegten. Sie schien zu schlafen. Die kleine Hand im gelben Lederhandschuh fuhr freilich dann und wann zum Antlitz, um die widerspenstigen Haare in Ordnung zu bringen, und der zierlich geformte Fuß, der in einem schmiegsamen braunen Strandschuh steckte, klopfte den Fußboden leise wie im Traume.

Obwohl er nichts von ihrem Antlitz sehen konnte, war es Rupert klar, daß es sehr hübsch sein müßte, ein anderes konnte er sich zu dieser Gestalt nicht denken.

Ob sie die Tochter des Obersten sein mochte, ob – ? – Da mit einem Male wandte sie mit einer raschen Bewegung den Kopf – ja, es war seine Tochter! Derselbe leuchtende Stolz in den großen dunkelblauen Augen; um die leise geschürzten Lippen derselbe überlegene Zug, der fast hochmütig erschienen wäre, wenn ihn nicht eben eine Befangenheit gemildert hätte, die einen matten Hauch von Röte über die zarten Züge goß und ihnen einen Liebreiz lieh, wie Rupert ihn nie gesehen. Freilich nur für eine kurze Sekunde. Gleich darauf blickten die dunklen Augen schon wieder sehr kühl und gleichgültig auf den Eindringling und wandten sich dann zu dem alten Herrn, als wollten sie sagen: Wir sind nicht mehr unter uns, nicht einmal in der ersten Klasse ist man vor allerlei Publikum sicher.

„Der alte Tick!“ murmelte er in sich hinein. „Solche Oberstentochter a. D. – aber sie sind immer dieselben. Pah!“

Er lehnte sich jetzt seinerseits mit vornehmer Nachlässigkeit in die Wagenecke. Versuchen wir ein wenig zu schlafen!

Er schloß die Augen, aber er öffnete sie bald wieder. Es wurde ihm nicht leicht, den Blick auf längere Zeit von seinem Gegenüber zu wenden, das ihm immer lieblicher erschien. Dieses zwar nahm ebensowenig Notiz von ihm wie der alte Herr. Sie unterhielten sich von den Erlebnissen einer soeben beendeten Reise. Die Erinnerungen mußten sehr schön sein; der alte Herr schmunzelte unter dem dichten Schnurrbart so freundlich; die

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