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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)


gegen 40 Grobsortierer. Mit der sicheren Hand eines Taschenspielers werfen sie die Briefe aus einiger Entfernung in die Fächer; das wirbelt nur so vor ihren Augen von pfeilschnell durch die Luft fliegenden Briefen. Der Grobsortierer stellt hier die höchste Stufe in der Briefbehandlung dar. Das Amt erfordert die Anspannung aller Nerven, ein scharfes Auge, das im Nu schlecht und gut geschriebene Adressen entziffert. Daneben muß der Mann das ganze Straßenbild der Reichshauptstadt und die posttechnische Begrenzung im Kopfe haben von jedem Hause ohne langes Besinnen angeben können, wohin es gehört. Die Feinsortierer haben dagegen ein begrenzteres Arbeitsfeld, sie trennen nur innerhalb der verschiedenen Postbezirke nach Bestellpostanstalten.

Mitten in das emsige Schaffen ertönt um Mitternacht das Glockengeläut der nahen Domkirche. Die ehernen Klänge vereinigen sich mit den mächtig widerhallenden Choraltönen der Posthorngruppe draußen auf den Posthofe. Eine kleine Pause feierlicher Stille, für einen Augenblick ruht die Arbeit, dann wird der Kampf von neuem aufgenommen. Zwölf bis vierundzwanzig Stunden später als in der Abteilung für Stadtbriefe tritt hier die Hochflut ein, die von den Verhältnissen der Entfernungen bestimmt wird.

Abseits von dem großen Strome der regulären Neujahrsbriefe fließt träge das kleine trübe Bächlein der „faulen“ Briefe mit unvollständigen und unleserlichen Adressen. Man sollte es nicht für möglich halten, daß es noch Leute giebt, die nach einer Stadt wie Berlin Briefe richten mit der Aufschriften „An Herrn Apotheker Schmidt in Berlin“, „Herrn Studiosus Schulze in Berlin“ u. s. w. Und doch gehen zu Neujahr in Berlin nicht weniger als 90 bis 100 000 solcher Briefe ein, die erst nach mühsamem Nachschlagen der Adreßbücher, Firmenverzeichnisse, Listen der Studierenden, Architekten, Künstler oder der Vereinsverzeichnisse wieder flott gemacht werden können. Schon für den gewöhnlichen Jahresverkehr besteht beim Briefpostamte eine „Aufklärungsstelle“ mit 12 Beamten, zu Neujahr tritt daneben eine besondere Zweigstelle mit 100 Beamten in Kraft, die tagelang nichts anders zu thun haben, als die Flüchtigkeiten und Nachlässigkeiten der Absender wieder gut zu machen, soweit sie es überhaupt vermögen. Dabei gestaltet sich die Aufgabe so schwierig, daß ein Beamter in der Stunde durchschnittlich nicht mehr als 20 bis 25 Briefe in einen bestellbaren Zustand bringen kann. Und dann müssen noch die schwerbeladenen Briefträger treppauf, treppab laufen, überall umherfragen und suchen nach dem Apotheker Schmidt oder dem Studiosus Schulze.

Es herrscht schon Freude bei der Post um einen solchen „faulen“ Brief, wenn er nach langen Irrfahrten endlich doch seinen Platz an irgend einem Herde findet, und alle Mühe und Arbeit erhält dadurch ihren Lohn.


Der Stoandlnarr.

Eine tiroler Geschichte von Rudolf Greinz.

     (Schluß)

Romedi!“ ließ sich die Emerenz mit leiser, halb erstickter Stimme vernehmen, indem sie versuchte, die Hand des Burschen zu ergreifen. „Was thust du an mir, Romedi!“

Er entzog ihr hastig seine Hand und meinte, während sie scheu einen Schritt zurückwich: „Beim Altvorsteher mußt dich bedanken, Emerenz. I hätt’ ja allein doch nix ausg’richtet!“

Sie hatte eine Entgegnung auf der Zunge, wagte jedoch kein Wort mehr, sondern ergriff beide Hände des alten Bauern, die sie lautlos drückte, während ihr die hellen Thränen übers Gesicht liefen. Der Hochlechner geleitete sie auf eine Bank beim Haus und sprach freundlich auf sie ein.

Die Leute begannen sich allmählich „zu verlieren“. Auch der Hochlechner ging, nachdem er von der Emerenz Abschied genommen und mit dem Romedi einen kurzen Gruß ausgetauscht hatte.

Der Luis ballte dem Altvorsteher die Faust nach. „Es kommt schon noch a Tag!“ würgte er wütend hervor.

„Freilich kommt a Tag!“ höhnte der Romedi. „Da sagst mir gar nix Neues. Is alleweil noch a Tag kommen, sobald die Nacht vorbei war. Und du wirst wahrscheinlich koa andere Weltordnung aufbringen. Jatz schaust aber’, daß du schleunig aus dem Anger außi kommst! Du hast da herein gar nix mehr z’ suchen! Und wenn d’ nit glei’ schaust, daß du Füß’ kriegst, dann mach’ i dir welche! Oder Flügel auch, wenn d’ willst! Kannst dir ’s g’rad’ aussuchen! Mir kommt’s nit drauf an. Wenn d’ nit durch die Thür durchgehn willst, wo der Zimmermann ’s Loch g’macht hat, dann wirf i dich übern Dachstuhl außi, daß d’ bis zum jüngsten Tag in der Luft droben hangen bleibst, du Gaudieb, du elendiger!“ Der Romedi krempelte sich mit nicht zu verkennender Absicht die Hemdärmel auf, so daß es der Kramer für angezeigt fand, eilig das Weite zu suchen. Schallendes Gelächter der Anwesenden folgte ihm.

So mancher drückte dem Romedi zum Abschied die Hand, der früher an ihm vorübergegangen war und ihn kaum gegrüßt hatte. Der Anger war bald von den Leuten geleert. Der Romedi merkte es gar nicht, als er zuletzt allein war. Er stand wie verloren da und starrte an dem alten Nußbaum hinauf. Plötzlich spürte er auf seiner Hand etwas Feuchtes. Er schreckte zusammen und wandte sich jäh um.

Die Emerenz lag vor ihm auf den Knieen im Grase und bedeckte seine Hand mit Küssen. Er riß sich los. „Was thust da! Steh’ auf! Man kniet nur vor unserem Herrgott!“

„Nit, bevor du mir verziehen hast!“ entgegnete das junge Weib mit leiser, thränenerstickter Stimme. „I mein, i muß mi ja vor Scham vor dir in die Erd’ eini verkriechen, wenn i an alles z’ruck denk’!“

„So denk’ halt nit z’ruck!“ erwiderte der Romedi rauh. „I denk’ auch lieber nit z’ruck!“

Das junge Weib erhob sich mühsam vom Boden. Die beiden waren allein auf dem weiten Anger. Den Romedi schien seine abweisende Antwort zu reuen. Er fuhr mit milderer Stimme fort. „Was i than hab’, Emerenz, dös hab’ i darum than, damit dem Schuften sein Plan nit aufgeht und weil i wirklich mit ganzem Herzen an dem Hof da g’hangen bin.“

„I kann dir’s nie vergelten,“ erwiderte die Emerenz. „I hab’s ja nit verdient um dich. Recht wär’ mir g’schehen, wenn sie mich von Haus und Hof g’jagt hätten!“

„Verdient oder nit verdient,“ entgegnete der Romedi, „darum handelt’s sich jetzt nit. Und Vergeltung brauch’ i auch keine! Am besten kannst mir’s vergelten, wenn du nimmer davon red’st!“

„Hast recht,“ sagte sie dumpf. „I bin’s ja gar nimmer wert, daß du an Dank von mir annimmst, was d’ sonst von an jeden Bettler auf der Straßen annehmen kannst.“

„So hab’ i ’s nit g’meint,“ beschwichtigte sie der Romedi.

„Reden wir von allem nimmer. I werd’s morgen am G’richt schon ordnen, und alles, was weiter is, kannst ja dann auf’m G’richt erfragen. Wir brauchen deswegen einander nit im Weg umz’gehen. Mein Geld is mir sicher g’nug auf dem Hof da. Und Kramer Luis bin i auch keiner. Und wenn’d was brauchst, schickst mir a Brieferl aufi in Berg. Was G’schrieben’s gilt heutzutag’ bei den meisten Leuten mehr als a einfach’s Wort allein!“

Sie schien den bewußten oder unbewußten Vorwurf, der in der letzten Rede des Romedi lag, zu fühlen und zuckte schmerzlich unter demselben zusammen.

„Romedi!“ stammelte sie und sah mit angsterfüllten Augen zu ihm auf. Doch er wich ihr aus und ging mit einem flüchtigen Gruß durch das offen stehende Hofthor, das vom Anger auf den Kirchenweg führte, davon.

Als der Romedi am späten Nachmittag in seine Werkstätte hoch droben im Gebirg heimkam, betrachtete er mit einem gewissen Galgenhumor eine auffallende leere Lücke in einem der Balken, die früher das geheime Schubfach enthalten hatte.

„Möchtest es nit meinen,“ sprach er vor sich hin, „daß in dem klein Lückerl da a ganzer Hof Platz hat!“ Daß er seinen ganzen Stolz, die mühselige Arbeit von Jahren geopfert hatte, um die Tochter seines ehemaligen Dienstgebers vor dem Bettelstab zu retten, das hatte der Romedi im Dorf drunten freilich verschwiegen. „Macht nix,“ tröstete er sich selbst, „der Herrgott laßt alleweil wieder neue Stoaner wachsen!“ …

Im Praxmarerhof brannte in der Kammer der Emerenz noch lange nach Mitternacht das Licht. Drinnen wälzte sich das junge Weib schlaflos auf den Kissen und schluchzte herzbrechend. „Heilige Mutter Anna, laß’ mich nit so hart büßen für mein Sünd’! Und es hätt’ alles anders kommen können! Jetzt is aber alles aus, alles verloren! Laß’ mich lieber sterben, heilige Mutter Anna!“ – – – –

November war’s worden. Ein rauher Winter war ins Land gezogen. Der Sturmwind heulte über die Jöcher, im Thale lag fußhoher Schnee, und noch immer wirbelte es in den Höhen in wildem Tanze. Um die Bergspitzen schien die tolle Jagd selber los zu sein. Man sah nur noch – wenn sich das Wetter überhaupt lichtete – die grauweißen breiten

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