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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Einsam.

Roman von O. Verbeck.

     (Schluß.)

Endlich brach Rettenbacher das Schweigen, das sich nach Hannas ablehnenden Worten seiner bemächtigt hatte. Er mußte ihr Rede stehen. „Gut,“ sagte er, sich wieder ganz aufrichtend, in einfachem, herzlichem Ton. „Zu erzählen hab' ich allerdings genug. Ein ganzes Haus voll. Und zum Freuen ist es ganz besonders eingerichtet. Also: Ich verändere’ mich, wie die Dienstboten sagen. Ich gehe von unserer Schule ab.“

„Was? Von Ihrem geliebten Direktor Kühnemann? Nach all diesen Jahren?“

„Ja, der Gedanke wollte mir zuerst auch durchaus nicht in den Kopf, noch weniger ins Herz. Aber er selbst hat mich mit seiner guten und starken Hand vors Thor gesetzt und mich nach allen Kräften weggelobt. Seit die Sache unwiderruflich feststeht, nennt er mich nur noch Kollege. Ich werde nämlich – hören Sie – selber Direktor! Sie dürfen sich wundern, ich hab’s ja auch gethan, hätte mir's ebensowenig zugetraut wie Sie –“

Hanna errötete.

„Was sagen Sie da,“ wehrte sie hastig ab. „Zugetraut! Alles hätt’ ich Ihnen zugetraut. Nur daß es mir wundersam vorkommt, dieses Glück vor Ihrer Thür, nur daß ich mich erst zurechtfinden muß – Sie dürfen nicht vergessen, es liegen Jahre zwischen heut’ und damals. Wenigstens für mich.“

Nur für Sie? Ich denke doch nicht. Ein Unterschied ist zwar: Sie müssen die Strecke überspringen, ich bin sie gegangen. Insofern haben Sie ganz recht. Der arme Magister von Anno siebenundachtzig hätte sich dergleichen Märchen freilich nicht träumen lassen. Aber auch der von heute stand vor einem Vierteljahr verblüfft bis zur Fassungslosigkeit vor diesem Göttergeschenk. Wirklich ein Göttergeschenk, das ist der Name! Denn alles, was ich mir je gewünscht habe, versuchen zu dürfen, durchsetzen zu können, durch eigene Erfahrung bestätigt zu sehen – das wird mir in diesem Geschenk zu teil. Und auch sonst – kurz, ich bin allerwege sehr froh. – Warum schütteln Sie den Kopf?“

„That ich das?“ fragte Hanna etwas verwirrt. „Ich war mir dessen nicht bewußt. Ich freute mich nur fortwährend.“

Im stillen kam ihr dann eine Art Erklärung für dieses unwillkürliche Kopfschütteln. Es war das tiefe Erstaunen über den Mann da vor ihr, diesen so gänzlich verwandelten Mann. Nicht nur die Stimme hatte Klang bekommen, auch die Augen Glanz, die Haltung der Schultern, ehemals immer leicht nach vorn geneigt, war straffer geworden, sie erschienen dadurch breiter, waren es auch wohl. Seine Blässe hatte nichts Krankhaftes mehr, sie zeigte nur noch die natürliche, schwer zu vergröbernde Zartheit der Haut, die dem lichtblonden Haar und Bart entsprach. Der ihr da gegenübersaß, war nicht mehr der kümmerliche, gedrückte, abgearbeitete Sorgenmensch, den sie – ach wie gut – gekannt hatte. Dieses warm leuchtende Feuer der blauen Augen war ihr fremd, diesem tiefen Klang der befreiten Stimme horchte sie verwundert zu. Aber sie sah und hörte gleichsam von weit her, schaute aus ihrer Höhle ins blühende Leben hinaus. Freilich konnte sie nicht wissen, daß die innere, also die recht eigentliche „Aufrichtung“ des Freundes erst wenige Monate alt war und daß sie mit ihrem persönlichen Geschick in engem Zusammenhang stand. Sie sah nur die überraschende Vollendung, nicht den Weg, den sie genommen hatte. Sie sah: Er war in diesen fünf Trennungsjahren rastlos aufwärts gestiegen, so rastlos wie sie abwärts. Meilenweit waren sie auseinander. Sie ahnte nichts von der beklemmenden Bangigkeit, die ihn ihrem stillen, stummen Gesicht gegenüber befallen hatte, und die nur sein fester Wille nicht zu Atem kommen ließ.

„Nun erzählen Sie aber auch ausführlich,“ sagte sie nach einer kleinen Pause mit dem freundlich mütterlichen Ausdruck der Teilnahme, den früh gealterte, müde Frauen für die Erlebnisse der jung gebliebenen Gefährten vergangener Zeiten haben, und der wohlthun möchte, aber meistens sehr schmerzlich ist.

Rettenbacher zerdrückte einen schweren Seufzer.

„Ich fange bei Adam und Eva an, wie es sich für einen gewissenhaften Chronisten geziemt,“ sagte er lächelnd. „Also geben Sie acht. Vor etwas länger als drei Jahren hat sich ein sogenanntes ,Konsortium' von gescheiten, warmherzigen und reichen Männern zusammengethan, um eine Erziehungsanstalt zu begründen, die klassische und moderne Ansprüche möglichst vereinigen soll. Eine Knabenschule, die ihre Zöglinge nicht nur reif fürs Abiturientenexamen, sondern auch reif fürs praktische Leben macht. Eine Anstalt, in der nicht nur das Gehirn, sondern der ganze Körper gleichmäßig ausgebildet wird. Ein Haus, das nicht nur kluge, sondern auch gesunde Söhne an Deutschland abliefert. Ein solcher Idealbau hatte nicht Platz in den Straßen einer Stadt, und wenn es die schönste der Welt gewesen wäre. Er mußte draußen errichtet werden, in der Natur, in der Freiheit. Da steht er nun. Im Thüringer Wald, wohl an seinem schönsten Fleck, in der Nähe von Schwarzburg. Ein stolzes, prächtiges, weitschichtiges Haus, den rauschenden Buchenwald zu Häupten, zu Füßen die schäumende Schwarza. Platz ist für zweihundert Schüler und das ganze Lehrerkollegium und überhaupt für alle Leute und Dinge, die in so ein Schulhaus, das zugleich Heimat sein will, hineingehören. Die klugen Männer haben für alles gesorgt: für große, helle Lehrsäle, für eine prächtige Küche, für Gemüsegarten und Kuhstall, für Turnhalle und Handwerkerschule und Schwimmbad. Als feinsten Kopf in ihren Beratungen, nachdem die Sache geschäftlich feststand und die staatliche Konzession gesichert war, hatten sie Direktor Kühnemann. Sie wußten, was sie thaten, als sie ihn als Oberhaupt in ihr Kollegium setzten. Und es war bei der ganzen Sache ihr klügster Streich, daß sie schließlich ihn zum König wählten für das junge Reich. Er sagte nun eine Weile nicht Ja, noch Nein, spielte den Unentschlossenen – er, der Willensklare – und versparte die endgültige Entscheidung auf den letzten Termin. Dann – plötzlich niemand war darauf gefaßt, erklärte er mit der äußersten Bestimmtheit, daß von seiner Person für diesen Posten nicht die Rede sein könne, daß er nicht daran denke, die Schule, die er seit fünfzehn Jahren leite, im Stich zu lassen – es falle ihm denn der Bakulus aus der Hand. Er habe aber schon lange einen anderen statt seiner im Sinn. Der Grund, weshalb er ihnen den Mann bisher nicht genannt habe, sei sehr einfach. Er habe ihnen die Tauglichkeit seines Schützlings ad oculos demonstrieren wollen, ohne daß sie es ahnten. Die sogenannten grundlegenden Gedanken, nach denen die Anstalt eingerichtet worden sei, stünden alle gedruckt, seien aber nicht von ihm geschrieben, er sei nur bis ins Herz hinein mit ihnen einverstanden und habe sie zu den seinigen gemacht. Wäre er den Herren von vornherein mit seinem Hauptplan gekommen, so würden sie diesen noch wenig Bekannten mit Mißtrauen betrachtet haben, schon allein seiner Jugend wegen, die übrigens in seinen Augen ein Vorzug sei. Jetzt bäte er sie, zu lesen was in dem Büchelchen da stünde, und ihm alsdann zu sagen, was sie von seinem Vorschlag dächten. Und schickt ihnen – merken Sie auf diese rührende Heimtücke – meine Schrift über die Gesundheitspflege in der Schule! Aber verzeihen Sie, davon wissen Sie natürlich nichts.“

„Doch, ich habe sie gelesen, mit Bewunderung und Freude, freilich auch mit viel Wehmut. Denn wo, so sagt’ ich mir, kann dergleichen begonnen und durchgeführt werden? Jetzt freilich – dies ist eigentlich märchenhaft –“

„Märchenhaft, das ist das Wort! Es giebt noch immer Stunden in denen ich es selbst nicht glaube. Also, die Herren lasen und wunderten sich und steckten die Köpfe zusammen. Und eines schönen Morgens – vielmehr eines regnerischen, kalten Morgens im März erhielt ich die Berufung. Wie ich auf meine Dampfbahn und hinein in die Stadt und zu Kühnemann gekommen bin, weiß ich heut’ noch nicht. Bei ihm kam ich dann allmählich wieder zu mir – –“ Rettenbacher stockte, es schien ihm die Kehle eng zu werden. Dann fügte er mit etwas wankender Stimme hinzu „Ueber dem Portal meiner Schulheimat soll der Spruch stehen, der von je her mein, meines lieben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_878.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)