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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Zuckung des Beines, sondern der Unterschenkel fliegt hoch in die Luft, zuckt nach und der Kranke ächzt vor Unbehagen. Das bedeutet eine unbedingt krankhafte Steigerung des Kniescheibenreflexes. Endlich ergiebt die Prüfung der Augen und Ohren eine unzweifelhafte Abstumpfung des Sehvermögens und Gehörs, eine starke Einschränkung des Gesichtsfeldes.

Die Untersuchung der innern Organe deckt eine Erkrankung derselben nicht auf, nur überrascht den Untersucher ein ungemein erregbares Herz- bezw. Herznervensystem. Die geringste Erregung schnellt die Zahl der Herzschläge weit über 100 hinauf, während sich neben Herzklopfen Angst und Beklemmung meldet.

So viel von diesem einen Fall, den wir getrost als typisches Beispiel der traumatischen Neurose gelten lassen können. Der Abweichungen sind Legion, ihre Skizzierung würde ungezählte Seiten füllen. Es liegt uns fern, auch nur auf die vornehmlichsten und bekanntesten einzugehen. Nur einzelne der hervorstechendsten und eigentümlichsten Züge bitten wir dem Leser vorführen zu dürfen. Sie sind fast ausnahmslos eigener Beobachtung oder dem Aktenmaterial entnommen, das wir zur Erstattung von Gutachten zu bearbeiten gehabt. Aus den verschiedensten Schichten der Bevölkerung hat sie das praktische Leben auf den Markt der ärztlichen Erfahrung geworfen.

Unvergeßlich ist mir eine junge Bauernfrau, die sich mir vor mehr als zehn Jahren vorstellte, nachdem ihr einige Wochen zuvor ein Bauernbursche bei Gelegenheit eines ländlichen Tanzvergnügens in unbändiger Feststimmung einen wuchtigen Faustschlag auf den Rücken versetzt hatte. Sie hatte sich ziemlich schnell von einer Ohnmachtsanwandlung und stärkerem Schwindel, der sie im Augenblick des Hinstolperns ergriffen, erholt und glaubte sich bereits wiederhergestellt, als eine Reihe nervöser Erscheinungen langsam, die eine nach der andern, heranschlich und der vordem lebenslustigen und Gesunden die Freude am irdischen Dasein mehr und mehr vergällte. Eine Beschwerde, die sie mir damals und später ihrer Umgebung nicht müde wurde, als die unerträglichste zu klagen, war die Empfindung, als ob ihr eine schwere Katze auf dem Rücken säße, ihn mit ihren Krallen unablässig nach unten ziehend und sie am Fortkommen hindernd. Eine organische Rückenmarkskrankheit konnte ausgeschlossen werden.

Ein Maurer, dem bei der Arbeit eine Tracht schwerer Bausteine auf den Nacken gefallen war, trug unter anderm ein maßloses Stottern und eine schwere Gehstörung als auffallendste Erscheinungen in der Kette der Symptome seiner jahrelang währenden traumatischen Neurose davon. Gleich dem schlimmsten Rückenmarkskranken schlenkerte er beim Gehen seine Beine hoch in die Luft, nicht ohne seitlich ausfahrende Bewegungen derselben und starkes Schwanken des Rumpfes. Ich habe auch als unbemerkter Beobachter ihn nie anders gehen sehen. Der in sich gekehrte, mürrische Mann vergoß Thränen, wenn er seine Umgebung ob seines Ganges und Sprechens spötteln hörte. Ein Baumeister wies noch Jahre nach einem Sturz vom Pferde einen eigentümlichen breitspurigen gemessenen Gang, ein andrer Herr aus ähnlicher Ursache ein wirklich komisches Tänzeln auf, das nicht zur Schau tragen zu müssen er große Summen gegeben hätte. Noch andre taumeln einem Betrunkenen gleich.

Zum Opfer eines Blitzschlages in einer Fernsprecheinrichtung wurde eine gerade am Apparate arbeitende Telephonistin. Sie zahlte unserer Krankheit ihren Tribut mit verschiedenen hysterischen Symptomen, darunter einer richtigen hysterischen Blindheit. Eine seltene, höchst barocke und Aerzten, die auf dem Gebiete der Nervenkrankheiten nicht sonderlich erfahren, wenig geläufige Störung, die Kranke, die ihres Sehvermögens auf einem Auge, ja sogar auch auf beiden plötzlich verlustig gegangen war, wird auf irgend einen Anlaß mit einem Schlage wieder sehend! Schon die Angst vor dem selbst herbeigerufenen Arzte kann hierzu genügen. In anderen Fällen besiegt gar das Vorhalten eines Glases die Blindheit, so daß das Auge unter ihm nunmehr die kleinste Schrift zu lesen vermag. Es begreift sich, daß die Laune einer solchen in ihrem Kommen und Gehen unberechenbaren Unempfindlichkeit der Netzhaut dem Augenarzte mit seinen sonst so eindeutige Resultate ergebenden Prüfungsmethoden die widerwärtigsten Possen bereiten kann. Bisweilen gewinnt die krankhafte Veränderung der Seelenstimmung eine derartige Ausprägung, daß das Bild der Melancholie im Vordergrunde steht. Wir haben Kranke kaum wiederzukennen vermocht, nachdem die ersten Nachwehen des Unfalls, sei es eines Eisenbahnzusammenstoßes, sei es eines Falles aus dem Wagen, dessen Pferde durchgegangen, sei es eines Schlages schwerer Maschinenteile gegen den Kopf, sei es endlich einer Brustquetschung im Gedränge, bereits überwunden schienen. In wachsendem Maße düster und verdüsternd, wortkarg und dumpf brütend, jeden Verkehr mit der eigenen Familie, Freunden und Kollegen scheuend, waren sie zum Schatten des früheren Ichs herabgesunken.

Werden Krampfzustände als Folgen von Unfällen bezw. als Teilerscheinungen unserer traumatischen Neurose auch eben nicht häufig beobachtet, so bleiben sie doch dem auf dem Gebiete der Unfallkunde erfahrenen Praktiker selten fremd. Richtige Epilepsie in ihrer schrecklichen Erscheinungsform sahen wir bei einem Soldaten, der beim Stoß in den Leib gestürzt und mit seinem Kopf hart aufgeschlagen war. Ein klassisches Beispiel epilepsieartiger Krampfanfälle findet sich in der maßgebenden Litteratur. Ein Mühlenwerksführer erleidet eine Quetschung der rechten Hand, die ihm zwischen zwei in Bewegung befindliche Mühlsteine geraten war. Ohnmacht, langes Schmerzenslager, bis die Wunde, die sich intensiv entzündete, geheilt ist. Während desselben allmählicher Eintritt nervöser Beschwerden. Herzklopfen, schlechter Schlaf mit Aufschrecken, wie Blei in den Gliedern, Erschwerung der Sprache, Kopfschmerzen, endlich – mehrere Monate nach dem Unfall – Krampfanfälle. Letztere, dem Kranken bis dahin fremd, leiteten sich durch ein schmerzhaftes, von der Handfläche aufsteigendes Kribbeln ein und nahmen die betreffende Körperhälfte in Beschlag. Schließlich stellte sich, sobald die Zuckungen das Gesicht ergriffen, Bewußtlosigkeit ein. Ich schließe mit der kurzen Erwähnung eigentümlicher bzw. eigentümlich lokalisierter Empfindungen, welche bisweilen den Grundzug der traumatischen Neurose darstellen. In nicht wenigen Fällen wurde mir über Gürtelschmerz im Bereich der Brust und noch häufiger des Unterleibes und der Lendengegend geklagt, ohne daß regelmäßig das Trauma auf die Gegenden eingewirkt hatte. Bei einem Stoß in die Seite, in die Lendengegend, in den Mittelleib beschränken sich einigemal die schmerzhaften Empfindungen auf die betreffende Seite. Ein Arbeiter beschrieb mir diese Halbgürtelschmerzen, in denen er das vornehmlichste Erwerbshindernis erblickte, mit der Empfindung, daß eine Fußangel sich um die eine Rumpfhälfte gelegt hätte und Lende, Seite und Eingeweide zusammenpreßte. Jener Baumeister der vom Pferde gestürzt, klagte, daß er bisweilen schwer unter Schmerzen in Fuß, Unterschenkel und Knie zu leiden habe, als ob federnde Strippen von der Ferse durch die Waden nach dem unteren Oberschenkelende gingen. Eine eigenartige Liste abnormer Empfindungen fand sich in dem Repertoire eines Arbeiters, den vor Jahren eine schwere Metallplatte an Gesicht und Vorderbrust getroffen hatte. Herzweh mit Ausstrahlungen nach dem Kopf und linken Arm, Kopfdruck, Zittern, Gefühl des Rieselns, Brummkreiselns, Rollens, Blitzens, endlich die Empfindung, als ob er statt der Hand eine Kralle habe. Offenbar sollte dieser Vergleich nur das bekannte Gefühl der Schwere des Gliedes ausdrücken, da er auch seine Beine nicht mehr recht mitbewegen konnte. Derselbe Patient, der im engeren Anschlusse an seine Brustguetschung schwerere Herzerscheinungen und weiterhin Symptome eines nicht, wie es anfangs schien, organischen, sondern nervösen Herzleidens dargeboten, meinte u. a., es fehlte ein Stück an seinem Herzen. Mit Nachdruck glauben wir, auf die Thatsache verweisen zu sollen, daß solche und ähnliche Empfindungen des zu großen Herzraums oder der Leere in der Herzgegend auch zu den Klagen derer zählen können, bei denen es zum Zustandekommen ihrer nervösen Herzbeschwerden der Vermittlung eines Unfalls nicht bedurft hat. Bekannt ist, welche merkwürdigen Gefühle gerade von Nervenschwachen und Hysterischen im Bereich des Herzens empfunden werden können. Krampfen, Greifen, Flattern, Schwärmen, Summen, Trommeln, Pendeln u. dergl. Trotzdem braucht kein Organleiden vorzuliegen.

Ich schließe hiermit die Aufzählung der objektiven und subjektiven Krankheitssymptome – wie dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein wird, herrschen letztere vor, – um ihre Liste nicht ins Ungebührliche zu vermehren. Es wäre verfehlt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_863.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)