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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Einsam.

Roman von O. Verbeck.

     (19. Fortsetzung)

Am späten Abend des dritten Tages war es in dem großen Hause ganz still. Alles war vorbei. Ludwig Thomas war fort. Die letzten Spuren der „überaus würdigen und schönen Feier waren vor Einbruch der Dunkelheit schon beseitigt gewesen, und die Familie hatte die Witwe allein gelassen. Auf Hannas ausdrücklichen Wunsch. Sie sehnte sich sehr nach vollkommener Ruhe, nach Schweigen rundumher. Sprechen zu müssen, zuhören zu müssen, wurde ihr je länger, je mehr zur Qual. Zu ihrer großen Erleichterung erfuhr sie noch beim Abschied, daß Eggebrechts – der Herr Bankdirektor und Viktor, der Sohn, waren zur Beerdigung noch erschienen – Berlin übermorgen verlassen und heimkehren würden. Da die Hochzeit der Trauer wegen nun doch noch etwas aufgeschoben werden mußte, hatten die Besorgungen nicht solche Eile mehr, und die angegriffenen Nerven Frau Selmas bedurften der häusliche Ruhe.

Hanna saß am Schreibtisch ihres Mannes im sogenannten Herrenzimmer, dem Gegenstück zu ihrem Boudoir. Es war ein schön eingerichteter Raum, doch ohne bestimmte persönlichen Zug, ohne Gesicht. oftmals flüchtig benutzt, nie intim bewohnt. Wenigstens sah es so aus. Ludwig hatte nicht die Gabe gehabt, einem eignen Gemach individuelle Prägung zu verleihen. Die Möbel in ihrer feinen, stilvollen Pracht standen so leblos da wie in der Koje einer Ausstellung. Es fehlte nur das Namensschild des Lieferanten über der Thür. Auch der kostbar ausgestattete Schreibtisch trug keine Spur der Erinnerung an seinen verschwundenen Besitzer. Kaum daß einige schwache Tintenstreifchen auf dem obersten Löschblatt der großen ledergepunzten Schreibmappe darauf hinwiesen, daß auf ihm ein oder der andre Privatbrief geschrieben worden sei.

Vielleicht eben der Brief, den Hanna in der Hand hielt und den zu lesen sie sich immer noch nicht entschließen konnte.

„An meine Frau, Hanna Thomas, geb. Wasenius.
Nach meinem Tode zu öffnen.

Sie starrte auf die von der Lampe hell beschienene Schrift. Wie lange wohl schon? Wie lange wollte sie noch so dasitzen und sich fürchten?

Sie hatte gestern für Selma nach Photographie des Verstorbenen gesucht, die, wie sie wußte, irgendwo hier im Schreibtisch liegen mußten. Da hatte sie diese Brief gefunden. Rechts im Seitenschrank, in einem sonst ganz leeren Fach hatte er gelegen vorn an, groß, weiß, gleichsam auf der Lauer. Heftig erschrocken war sie vor dieser Entdeckung stehen geblieben, ohne den Mut, das Schriftstück zu berühren. Dann – unter einem unabweislich zwingenden Gefühl – hatte sie die Lade sacht, unhörbar zugeschoben und den Schrank abgeschlossen. So lange er, der ihr da geschrieben hatte, noch über der Erde war, wollte sie nichts lesen. Nachher, wenn er in Frieden ruhte, war immer noch Zeit. Sie wußte ja, was der Brief enthalten würde. Vorwürfe, leidenschaftliche, heftige, wütende Anklagen ohne Schonung, hingeschleudert in der Maßlosigkeit seiner Hassesliebe. Sie wußte, ach, sie wußte! Auch sein Tod sollte sie nicht befreien von der Last der bittern Schmähungen. Schriftlich hatte er es ihr geben wollen, daß sie ihm das Leben vergiftet habe.

Sie schüttelte aber endlich den Kopf, wie sie so da saß in der lautlosen Stille der Nacht. Sie atmete auch tief auf. Nichts, was du mir da geschrieben hast, dachte sie, kann mich so tief mehr treffen wie deine letzten lebendigen Worte. So bitter wie zu späte Selbsterkenntnis, glaub’ ich, schmeckt kein andres Gift. Also gieb nur her!

Als sie den Umschlag aufschnitt, kam ihr – warum nicht schon viel eher? – die Erinnerung an jenen andern Brief, den Brief ihrer Mutter, „nach meinem Tode zu lesen.“ Ein qualvolles, schluchzendes Aufatmen erschütterte sie. Sie schloß die Augen. Mit diesem zweiten, andern Abschiedsgruß hielt sie die Vergeltung dieser verfehlten vier Jahre in der Hand. Sie konnte nicht bitter genug sein.

Hanna wischte mit dem Handrücken über die nassen Augen und entfaltete die große, vierfach zusammengelegte blaue Karte. Viel stand aber nicht darauf.

„Du wirst jedenfalls brennend wünschen, zu erfahren, wie es um Deine ersehnte Erbschaft steht, da unsre Ehe ja kinderlos geblieben ist. Mein Testament liegt natürlich in gerichtlichem Verwahrsam, aber um Deine Spannung nicht auf eine zu harte Probe zu stellen, will ich Dir den Inhalt verraten. – Ich ernenne Dich zu meiner Universalerbin – mit einer einzigen Bedingung. Du darfst nicht wieder heiraten! Willst Du eine neue Ehe schließen, so verlierst Du das schöne Vermögen bis auf das gesetzlich Dir zustehende Pflichtteil. Das Haus hättest Du in diesem Falle sofort zu räumen und meiner Schwester zu überlassen. Ueber die Verwendung meiner baren Hinterlassenschaft – zu gemeinnützigen Zwecke – hätte alsdann gleichfalls Selma zu bestimmen. Jetzt wird sich Dein verhungerter Schulmeister wohl zweimal besinnen, ehe er um Deine freigewordene Hand werben kommt. Die Spekulation war falsch, Ihr habt Euch in mir leider gründlich verrechnet. Wohl bekomme Euch gleichermaßen die Toggenburgerei oder die neue Ehe – wenn anders sie Euch jetzt noch begehrenswert erscheint. Schade, daß ich Dein Gesicht jetzt nicht sehen und – küssen kann. Adieu.

Einen recht schönen Gruß aus dem sogenannten Jenseits von Deinem Mann, der Dir treuer war als Du ihm.

„So war das gemeint?“ flüsterte Hanna, indem sie den Brief langsam zerriß. „Wie unglücklich warst du, als du das schriebst. Und wie weit, wie weit hast du am Ziel vorbei geschossen. Es wäre nicht nötig gewesen Ludwig, das da. Wahrhaftig nicht.“


42.

„Tag, Hans! Ist der Bruder vorrätig?“

„Jawohl, Herr Günther. Vor einer halben Stunde ist er heimgekommen. Aber es ist noch einer drin bei ihm. Ein Ochse mit'm Brett vorm Kopf.“

Günther fuhr dem Jungen mit der Hand in das blonde Kraushaar und zauste ihn ein wenig. „Frecher Schnabel du! Ulke nicht über schwache Nebenmenschen. Sei froh, daß du keine Nachhilfestunden brauchst.“

„Na, mein Großer, möcht' mir es auch eklig besorgen, ei Wetter.“

„Verdientermaßen. Schickte sich schlecht für Johannes Rettenbacher. Uebrigens, wie steht das mit deiner Schwester Grete? Auch zu Hause?“

„Und wie! Nachmittag! Kaffeestunde!“

„Meinte ich eben im Stillen. Na dann also – –“ Flink hängte der Musiker seinen Hut an den Nagel. Hans war eifrig bereit, ihm beim Ablegen zu helfen. „Aus Versehen erwischte er aber den innern Aermelrand und zog ihm in größter Geschwindigkeit Ueberzieher und Rock zugleich von der Schulter.

„Halunke!“ rief Günther lachend. „Was fällt dir denn ein?“

Hans schien nun sehr bestürzt, aber so flink er bei Ausübung seines Schelmenstückchens gewesen war, so läppisch benahm er sich, als es galt, den Herrn Lehrer wieder anzuziehen. Ueber dem vergnügten Gelobe öffnete sich die Wohnzimmerthür.

„Ob ich mir es nicht gedacht habe,“ sagte Grete Zöllner strahlend. „Wenn's auf dem Vorplatz lacht und kracht und juchzt, dann ist es allemal Herr Günther.“

„Wagnerisches Motiv, Frau Zöllner! Sehen Sie 'mal an. Lärmende, lachende, lümmelnde Lebenslust! Verstehen Sie? Schönen guten Nachmittag. Darf ich ein bißchen hineinkommen?“

„Nur näher, bitte schön. Sie kriegen auch ein Täßchen Kaffee.“

„Krieg’ ich? Famos! Aber als ganz ungebetener Gast –“

„Ich hatte so eine Ahnung, wissen Sie, als wenn Sie kommen würden, und hab’ drum eine Bohne mehr in die Kaffeemühle gethan.“

„Ja, ja,“ warnte Hans mit besorgter Miene, „wenn Herr Günther davon nur keinen Dadderich bekommt. Das muß ja das reine Gift geworden sein –“

„Mach dich lieber nützlich, du Frechling,“ unterbrach ihn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_822.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)