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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Das Kind.
Roman von Adolf Wilbrandt.

     (Schluß.)


21.

Fritz Waldeck, der von den Oelbäumen zurückkam, sah den aufgeregten Arthur mit dem gebärdenreichen Italiener im Hausgarten reden, darauf ins Haus hineinstürmen. Einen Augenblick sah er ihnen verwundert nach, dann fiel er in seine Gedanken zurück. Er wußte nicht, was thun, noch wohin mit sich … An der Mauer der Nachbarvilla hatte er gestanden, in die immergrünen Kronen der Steineichen hinaufgesehn, auf das Zwitschern der Vögel da oben gehorcht, einen befreienden Gedanken hatten sie ihm nicht herabgezwitschert. Sollte er bleiben? Sollte er fort? Diese Menschen grade jetzt verlassen, war das nicht wie Feigheit, wie Flucht? Aber konnte er Gertrud wieder vor die Augen treten, nach dem, was er ihr gesagt? – Ach, dachte er, die Zähne aufeinanderbeißend, das ist auch ein Elend, wenn so auf einmal die Schwäche über einen kommt, die gemeine Schwäche, die Redseligkeit, – und was man ewig verschweigen wollte, bricht so wie aus dem Vesuv da plötzlich, unaufhaltsam hervor! Er ging wieder zum Felsgarten, zur Meerterrasse hin, die Augen auf den Weg gesenkt. Gertrud sah ihn kommen, die noch an der Brüstung stand. Von einer jähen Scheu ergriffen, trat sie hinter das nächste Gebüsch, das dicht zusammengewachsen war und sie ganz verdeckte. Ahnungslos, wie nah‘ sie ihm war, kam er auf die Brüstung zu. Jetzt wäre sie gern davongeschlichen, ins Haus zurück, von dort her schritt aber eben eine hohe und breite Gestalt heran, Vater Rutenberg. Vor dem scheute sie sich auch – ach, sie war so unglücklich. Den Kopf noch tiefer in das Gebüsch steckend, als möchte sie sich vor der ganzen Welt verbergen, blieb sie stehn, ganz still, wie ein Vogel in der Hand.

„Herr, ich suche Sie ja!“ sagte Rutenberg mit seiner kräftig herzlichen Stimme, als er näher kam. „Der Oberappellationsrat sagt mir, Sie wollen fort. Das hat keinen Sinn! Das kann ich nicht dulden. Das ist unnatürlich. Gestern abend gekommen – gestern nacht Versöhnung – und am andern Morgen, eh‘ man sich recht in die Augen gesehn hat, wieder adieu und fort!“

„Ich fühle das wohl,“ erwiderte Fritz beklommen, „alles, was Sie sagen. – Verzeihen Sie, Herr Rutenberg, dennoch muß ich fort. – Wenn es auch sonderbar aussieht, daß ich Sie bei dieser Gefahr – –“

„Den Vesuv meinen Sie?“ Rutenberg verzog die Lippen ein wenig, „ach, den lassen Sie nur! Den Herrn fürcht‘ ich nicht! – Aber warum müssen Sie fort? Was gegen die Natur ist, soll der Mensch nicht müssen. Eben hab‘ ich Sie gefunden – will Sie nicht verlieren. Gehn Sie mir nicht fort!“

Fritz Waldeck konnte sich nicht länger enthalten zu seufzen, aber nicht wie ein schwacher Mensch, sondern wie ein starker seufzt. „Herr Rutenberg,“ sagte er, aus dem Seufzer einen Entschluß machend, „Ihre Güte beschämt mich so sehr. Was kann ich darauf andres thun, als die Wahrheit sagen. – Als ich die Ehre hatte, Sie zum erstenmal zu sprechen, da sagte ich Ihnen – in Ihrem Zimmer – daß ich das Unglück gehabt hätte, mich in Ihre Tochter –“

Rutenberg starrte ihn an, Fritz sprach nicht weiter. „Zu verlieben!“ ergänzte endlich Rutenberg selbst. „Ja freilich. Das hatt‘ ich ganz vergessen. Ueber der Reise und allem. Verzeihen Sie!“

Ach mein Gott! dachte Gertrud hinter ihrem Busch.

„Herr Rutenberg, warum sollte Ihnen etwas so Unwichtiges im Gedächtnis bleiben? – Aber daß ich nun wieder fort möchte, das begreifen Sie. Wenn Sie mich so herzlich, so vertrauenweckend ansehn, muß ich Ihnen alles sagen … Ich hab‘ schon – beinahe Uebermenschliches ertragen, Herr Rutenberg. Da ist dieser andre – Herr van Wyttenbach. Ich hab‘ vor Ihrer Tochter geheuchelt, als sie nach ihm fragte, hab‘ ihn zehnmal besser vor ihr gemacht, als er ist, hab‘ alles Erbärmliche, Lächerliche verschwiegen – während ich doch wußte, daß – –“ Er verstummte wieder. Er fühlte, daß er wieder dieser weichen Redseligkeit verfiel, die ihn heute verfolgte, die ihn zornig machte. Das Blut stieg ihm ins Gesicht.

O Gott! dachte Gertrud und zitterte, sie war so erschrocken, daß sie fast in die Büsche gegriffen, sich verraten hätte. Was sagt er? „Alles Erbärmliche – Lächerliche …“

„Aber nun so zuzusehen,“ nahm Fritz wieder das Wort, nachdem er sich gesammelt hatte, „ich meine, so dabeizustehn – verzeihen Sie, wenn ich das nicht ertrage, so stark bin ich nicht!“

„Fritz Waldeck,“ sagte Rutenberg, schlug ihm auf die Schulter und lächelte ihm so recht aus dem Herzen zu, „Sie sind stark genug. Ich war in Ihren Jahren lange nicht so stark, kann ich Ihnen sagen. Was Sie da andeuten, das versteh‘ ich ja, aber glauben Sie mir – ich will auch nur andeuten – verzagen Sie nicht zu früh! Das Jahr hat seinen April, aber auch die Menschen …“

Zum Glück sprach der ahnungslose Vater, dessen Tochter drei Schritte entfernt stand, nicht weiter. Schilcher kam vom Gasthof heran, diesmal keine Depesche, aber doch wieder ein Blatt Papier in der Hand. Es war zusammengefaltet, wie zu einem Briefchen. Er hob es einen Augenblick, dann sagte er in tiefem Ernst. „Herr van Wyttenbach läßt sich empfehlen, er ist mit Pasquale ausmarschiert – weil so ein Berg keine Vernunft hat!“

Diesmal vergaß die arme Gertrud doch, wo sie war. Ein Laut der Empörung brach ihr aus der Kehle.

So schnell, wie siebzehn Jahre es können, nahm sie sich dann zusammen und trat hervor, als käme sie eben irgendwoher gegangen, nur waren leider ihre rosigen Wangen ganz in Rot getaucht. „Was ist?“ fragte sie. „Ich komme von der Mauer, wo die Rosen stehn. Was erzählst du von Wyttenbach?“

„Sein teures Leben hat er gerettet,“ antwortete Schilcher, der dabei keine Miene verzog. „Vor seinem Ausmarsch hat er das da beim Kellner, beim Pepino, zurückgelassen für Fräulein Rutenberg.

Er überreichte ihr das Briefchen; sie nahm es mit leise zitternder Hand.

Sie brauchte es nur zu entfalten, es war nur ein kleines Blatt; mit fliegenden Augen las sie, so daß niemand mitlesen konnte:

„Ich habe für Sie und für uns alle Vernunft, liebes Fräulein Gertrud; ich ziehe in die Berge voran und mache Ihnen Quartier. Ich werde Sie retten, und wenn auch wider Ihren Willen. Arthur v. W.“

Schilcher, der diese Zeilen auch gelesen hatte – Pepino hatte ihm das Blatt offen übergeben – wandte sich zu Rutenberg, während sie noch eben las: „Weiß Trudel schon?“

„Was?“ fragte Rutenberg. Gertrud horchte auf.

„Daß Doktor Wild diesen Ausbruch des Vesuv nur erfunden hat? Daß wir also in aller Ruhe roten oder weißen Capri trinken können, und die Rückkehr des vorsichtigen Herrn van Wyttenbach erwarten?“

Fritz Waldeck machte große Augen. „Sagen Sie das im Ernst? Erfunden?“

„Zu dienen,“ erwiderte Schilcher. „Und offenbar gut erfunden: denn der ‚Vernünftigste‘ von uns sieht jetzt diesen bösen Vesuv mit dem Rücken an!“

„Mit dem Rücken an,“ wiederholte er behaglich und rieb sich die Hände. In diesem Augenblick sah er wirklich wie ein Nußknacker und zwar wie ein böser aus.

Nur wer ihm so recht in die Augenwinkel guckte, konnte da das heimliche, tiefversteckte Onkellächeln sehn, mit dem er auf die Trudel blickte.

Trudel konnte es nicht bemerken, sie hatte die Augen geschlossen. So hatte sie sich noch nie geschämt wie jetzt, vor dem Vater, vor Schilcher, vor dem „Verliebten“, vor der ganzen Welt. Niemand, niemand mehr sehn! – Und gestern nacht wollt‘ ich mit ihm fliehn, fuhr ihr durch den Kopf, durch die Brust. O die Schande! Die Schande!

Sie öffnete die Augen so viel, daß sie den Weg erkennen konnte, und wankte zum Hause zurück. Es rief sie zum Glück niemand mehr an; niemand sprach zu ihr. Alles hinter ihr war still, wunderlich und wohlthuend still. Sie kam zum Haus, die Treppe hinauf, durch den leeren Salon in ihr Zimmer. Das zerknitterte Blatt noch immer in der Hand, warf sie sich auf ihr Bett.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_800.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)